Hasskriminalität aus Betroffenenperspektive: Verschiedene Kontexte, ähnliche Erfahrungen

Dieser Beitrag dokumentiert in verkürzter Version die Podiumsdiskussion der IDZ-Tagung „Gewalt gegen Minderheiten“ mit Vertreter_innen aus gesellschaftlichen Gruppen, die potenziell von Hasskriminalität betroffen sind. In der Diskussion berichteten die Gäste von Erfahrungen von Betroffenen sowie ihrer Einschätzung zur Bedeutung des Konzepts „Hasskriminalität“. Es diskutierten Paul Neupert (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.; BAGW), Jenny Renner (Lesben- und Schwulenverband Deutschland; LSVD), Onur Özata (Rechtsanwalt) und Eva Drubig (Zentralrat der Juden in Deutschland). Moderiert wurde die Diskussion von Janine Dieckmann (IDZ).

Janine Dieckmann:
Wir wollen in dieser Diskussionsrunde das Konzept Hasskriminalität weiterdenken und schärfen. Wir haben auf dieser Tagung bereits viel von rassistischer, antisemitischer Hasskriminalität „et cetera“ gesprochen. Genau um dieses „et cetera“ soll es in dieser Diskussion gehen: Von welchen Betroffenengruppen reden wir beim Thema Hasskriminalität? Was bedeutet es für die Opfer? Welche Auswirkung hat es für sie, ihre Angehörigen, aber auch ihre gesamte gesellschaftlich marginalisierte Gruppe? Herr Neupert, ich würde gern mit Ihnen beginnen: Was macht Hassgewalt gegen wohnungslose Menschen aus?

Paul Neupert:
Auch wohnungslose Menschen werden immer wieder Opfer von Gewalt – vor allem die Obdachlosen, die tatsächlich auf der Straße leben (ungefähr 10 Prozent der wohnungslosen Menschen). Hasskriminalität spielt da eine ganz entscheidende Rolle. Wenn man sich mit den Betroffenen unterhält, wird schnell klar: Es gibt eigentlich kaum jemanden, der auf der Straße lebt und diese Gefahr nicht wahrnimmt. Es haben eigentlich alle Angst vor Übergriffen und fast jede_r hat schon Erfahrungen mit Gewalt gemacht.

Seit 1989 haben wir als BAGW1 532 Gewaltfälle mit Todesfolge dokumentiert.2 Zudem gab es mehr als 1.400 Fälle, die zwar nicht tödlich ausgegangen sind, zum Teil aber sehr brutal waren. Wir unterscheiden zwei Gruppen von Täter_innen – einerseits die, die auch aus dem Milieu stammen und selbst wohnungslos sind; andererseits die, die nicht wohnungslos sind. Das hat insofern Sinn, als dass die Taten hinsichtlich des Tatverlaufs sehr unterschiedliche Charakteristika aufweisen. Wenn die Täter_innen selbst wohnungslos sind, passiert das meist in den Unterkünften oder auf der Platte, also dort, wo die Leute schlafen. Es geht dabei oft um knappe und knapper werdende Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Es sind häufig Beziehungstaten und die Leute kennen sich in der Regel. Häufig sind es zum Beispiel Mitbewohner_innen, die in einem Zimmer zusammenwohnen (müssen). Bereits kleine Streitigkeiten schaukeln sich dann oftmals bis zur Gewalttat hoch. Bei nicht-wohnungslosen Täter_innen hingegen – und die sind immerhin für 239 Todesfälle seit unserem Dokumentationsbeginn verantwortlich – entsteht die Gewalt viel spontaner, häufig ohne erkennbaren Anlass, eher überfallartig, und nicht selten aus Gruppen von meist jungen männlichen Tätern heraus. Die Tatmotivation ist dann meistens gar nicht unbedingt bekannt und wird oft auch im Nachhinein nicht bekannt. Es geht manchmal um Raub. Das mag verwundern, weil man ja eigentlich denken könnte: Was will man einem wohnungslosen Menschen noch wegnehmen? Das passiert aber immer wieder. Es geht auch häufig um Frust und das Abreagieren an irgendeiner Person, an irgendetwas, an irgendjemandem. Da sind wohnungs- und obdachlose Menschen leichte Opfer, die leicht zu finden sind und denen man keine Rechte zuspricht.

Dann gibt es Gewaltfälle, die gerade aufgrund der Zugehörigkeit zur Gruppe der Wohnungslosen ausgelöst werden. In den Fällen muss man tatsächlich von Hasskriminalität sprechen: wenn Wohnungslosigkeit und Armut den Täter_innen eigentlich schon der scheinbare Beweis für eine gewisse „Minderwertigkeit“ oder „Unnützlichkeit“ sind. Das ist dann die Legitimation für die Tat – ein klar sozialdarwinistisches Motiv, das relativ weit verbreitet ist. Und Vorurteile sind in vielen Köpfen fest verankert. Die IKG-Langzeitstudie zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ zeigt, dass ca. 35 Prozent der Bevölkerung in Deutschland durchaus der Überzeugung sind, dass bettelnde Obdachlose aus den Stadtzentren entfernt werden sollten3. Folglich gibt es Städte, die solche ausgrenzenden Praktiken in unterschiedlichster Art und Weise durchführen. 

Wenn sich diese Ideologie der Ungleichwertigkeit zu Gewalt entwickelt, ist dies sehr häufig mit Erniedrigungen und Entmenschlichungen verbunden. Ich meine zum Beispiel das Urinieren auf einen schlafenden Obdachlosen. Solche Fälle sind dokumentiert. Allerdings gibt es relativ wenige Bekenntnistäter_innen, die ihre menschenverachtende Haltung im Nachhinein offen zugeben.

Warum das so ist, darüber kann man nur spekulieren. Aber es existiert eine Studie von Daniela Pollich (2015)4, die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten und die Kriminalstatistik in Nordrhein-Westfalen auswertet und darlegt, dass bei nicht-wohnungslosen Täter_innen ungefähr in 40 Prozent der Fälle vorurteilsbasierte Motive eine Rolle spielen.

Aber was macht die Tat gegen Wohnungslose so besonders? Die Menschen sind im Prinzip schutzlos. Sie haben keine Tür, die sie hinter sich abschließen können, sie haben keinen privaten Raum. Insofern sind sie permanent potenziellen Übergriffen ausgesetzt. Diese Angst verursacht Stress. Psychische und gesundheitliche Probleme sind die Folgen. Betroffene gehen mit der Gefahr sehr unterschiedlich um. Einige ziehen sich sehr weit zurück und verstecken sich, so gut es geht. Andere legen sich direkt in den öffentlichen Raum und hoffen im Fall der Fälle auf Zivilcourage. Es gibt Leute, die vertrauen auf ihren Hund, andere haben ein Messer immer im Schlafsack. Das ist sehr unterschiedlich.

Klar ist auch: Es gibt es ein extrem hohes Dunkelfeld, weil Wohnungslose, gerade Obdachlose, sehr große Angst und viel Misstrauen gegenüber Sicherheitsdiensten, Polizei und Ordnungskräften jeglicher Art haben. Im Zusammenhang mit der Säuberungsideologie der Städte haben viele Leute schon schlechte Erfahrungen mit struktureller und körperlicher Gewalt gemacht. Sie haben auch erfahren, dass ihre Anzeigen nicht wahr- und ernstgenommen werden, dass die Argumente der Gegenseite immer stärker zählen. Solche Fälle kenne ich auch: Ein Angestellter der Security hatte einen Obdachlosen ins Gleisbett gestoßen – die Mitarbeiter_innen behaupteten, er sei gefallen. Zum Schluss steht Aussage gegen Aussage, aber die Polizei nimmt die Anzeige nicht auf, weil sie der einen Seite mehr Glauben schenkt. Und das geht noch weiter – bis hin zu Gewalt, die direkt von der Polizei ausgeht. Wir hatten bei uns in der Notübernachtung einen Herrn, der mit einem riesigen blauen Auge zu mir kam und meinte, er sei am Schlafplatz zusammengeschlagen worden; ich habe ihn gefragt, ob er bei der Polizei war. Er meinte: „Du Witzbold, das war die Polizei!“ Wo sollen die Personen sich denn hinwenden, wenn sie praktisch kein Vertrauen in die Sicherheitskräfte haben?

Und der letzte Punkt, der die große Vulnerabilität von Obdachlosen nochmal ganz besonders deutlich macht, ist die Angst vor Rache. Auch wenn die Täter_innen gefasst werden, die Opfer haben danach immer noch keine Wohnung. In der Regel, gerade in kleinen Städten, wissen die Täter_innen ganz genau, wo die Menschen liegen, wo sie schlafen, wo sie sich aufhalten. Obdachlose können sich nicht zurückziehen und befürchten deshalb Rache und Vergeltungsanschläge. Viele sagen deswegen: „Eine Anzeige bei der Polizei mache ich lieber nicht, sonst habe ich noch mehr Stress im Nachhinein.“ Das ist ein ganz großes Problem.

Janine Dieckmann:
Wie bewerten Sie die derzeitige Erfassung von „Hasskriminalität“ in der Polizeistatistik für „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK)?

Paul Neupert:
Die PMK-Statistik ist bei Wohnungslosigkeit ein interessanter Fall, weil Gewalt gegen Wohnungslose unter dem Oberbegriff „Hasskriminalität“ und unter dem Unterpunkt „aufgrund des gesellschaftlichen Status“ geführt wird. Da heißt es explizit: „gegen höhere oder niedere soziale Schichten“. Im letzten Jahr hat eine Kleine Anfrage der Grünen ergeben, dass es tatsächlich so ist: In dieselbe Kategorie wie Gewalt gegen Obdachlose fällt auch der Brandanschlag gegen eine Nobelkarosse von Mercedes. Eine solche Statistik lässt sich im Nachhinein überhaupt nicht mehr sinnvoll auswerten. Man kann das dann nicht mehr unterscheiden. Insofern ist die Statistik an dieser Stelle völlig verwaschen und wir haben keine verlässlichen Zahlen, was Gewalt gegen Obdachlose angeht.

Janine Dieckmann:
Vielen Dank für diese Perspektive! Jenny Renner, was lässt sich aus LSBTTI5-Perspektive zum Thema Hasskriminalität sagen? Was ist Ihre Perspektive und die des LSVD auf die Lage in Deutschland?

Jenny Renner:
Ich habe erst einmal versucht zu schauen, wie die staatliche Einordnung des Ganzen ist. Es ist tatsächlich so: Die sexuelle Orientierung ist ein Unterthema bei der PMK – neben Rassismus, Behinderung, Fremdenfeindlichkeit etc. Angriffe auf uns werden also im internen kriminalpolizeilichen Meldedienst als PMK aufgeführt. Im Verfassungsschutzbericht wird Hasskriminalität gegen LSBTTI jedoch bis heute nicht aufgeführt, obwohl sie theoretisch vorliegen müsste. Das heißt, dass sie darin einfach nicht stattfindet. Daraus folgt, dass Zahlen zu homophober und transphober Gewalt nicht regelmäßig veröffentlicht werden. Somit ist die polizeiliche Erfassung dieser Kategorie von Hasskriminalität in Deutschland sehr mangelhaft. Das Bundesinnenministerium (BMI) hat für 2017 Zahlen aus sehr wenigen Bundesländern veröffentlicht. Das waren 313 Straftaten, die gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gerichtet waren und davon 74 Gewalttaten. Wenn ich aber jeden Tag schaue, was so passiert, allein in Berlin, dann sollte uns allen klar sein, dass es natürlich bei Weitem nicht das erfasst, was tatsächlich passiert. Was mir in dem Zusammenhang auch wichtig ist: 189 dieser Fälle waren nicht zuzuordnen als rechts-, links-motiviert etc. Aber es ist ganz klar vor allem der Bereich „PMK-rechts“, bei dem Straftaten vorkommen, die aufgrund der sexuellen Orientierung stattfinden, und nicht „PMK-Ausländerkriminalität“.

Wir haben eine enorme Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren, die Übergriffe werden immer mehr. Dabei ist die Zahl von Schwulen, die sich melden, weil sie Übergriffe erfahren haben, weitaus höher als die von Lesben oder auch von Trans-Personen. Laut Aussagen von L-Support6 sagen viele Lesben: „Naja, das ist jetzt auch nicht so wichtig. Ich muss das auch nicht hochkochen.“ Schwule sind viel selbstbewusster als Lesben und zeigen öfter an. Das heißt, viele Fälle werden einfach gar nicht angezeigt und können somit auch nicht in der PMK Hasskriminalität vermerkt werden, wenn sie denn überhaupt als diese identifiziert werden.

Wichtig ist es daher, zu überlegen: Welche Maßnahmen erhöhen die Anzeigebereitschaft, die enorm niedrig ist, und damit auch die Sichtbarkeit von Hasskriminalität gegen LSBTTI? Es benötigt ein Bund-Länder-Programm gegen homophobe und transphobe Gewalt inklusive umfassender Präventionsmaßnahmen. Außerdem sind hauptamtliche Ansprechpersonen für homo- und transphobe Hasskriminalität bei Polizei und Behörden notwendig. Es braucht einen regelmäßigen Austausch zwischen Polizei und der sogenannten Community, um Misstrauen zu verringern und die Anzeigebereitschaft zu erhöhen. Wir brauchen Informationsmaterial über LSBTTI. Das wäre ein weiterer wichtiger Schritt des Sichtbarmachens und somit zur Ermutigung, die Hintergründe einer Tat ganz klar zu benennen. Zudem benötigt es dringend eine Sensibilisierung und Schulung der Opferhilfen und -beratungen. Die rufen uns als LSVD teilweise an und fragen ob wir helfen können? Wie macht man da weiter? Diese Stellen müssen natürlich ausfinanziert sein und Personal haben, das sich in diesem Bereich auskennt. Ich fände es klasse, wenn es in Thüringen ein Anti-Gewalt-Projekt für LSBTTIQ* geben würde. Es benötigt klare Empfehlungen und Verwaltungsanordnungen, gerade an Polizei und Justiz, damit Hasskriminalität differenziert erhoben wird. Dabei ist eine obligatorische Frage nach möglichen Motiven der Tat vielleicht unausweichlich. Das heißt, Polizist_innen sollten die Betroffenen explizit fragen: Warum denkst du, bist du Opfer dieser Gewalttat geworden? Da sind wir aber durchaus noch in der Diskussion. Ich finde es sinnvoll, das explizit vorzuschreiben, damit die Polizei ein klares Raster hat und das mit aufnehmen muss.

Janine Dieckmann:
Vielen Dank für das Statement. Eva Drubig, antisemitische Hasskriminalität hat in der offiziellen, schon vielfach bemängelten PMK-Statistik im Vergleich zum Vorjahr um 2,5 Prozent zugenommen. Was bedeutet das aus der Perspektive von Juden und Jüdinnen in Deutschland?

Eva Drubig:
Ja, die Zahlen antisemitischer Vorfälle steigen stetig an, zudem beobachten wir eine Radikalisierung im öffentlichen Diskurs. Wir gehen von einem enormen Dunkelfeld bei antisemitischen Vorfällen aus. Im Zentralrat der Juden in Deutschland sind 23 Landesverbände und ungefähr 108 Gemeinden organisiert. Die Menschen in diesen Gemeinden sind sehr besorgt. Wir erheben antisemitische Vorfälle nicht selbst, aber sie werden häufig an uns weitergeleitet. Diese Vorfälle geben wir an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sowie an die Polizei weiter. Diese Zusammenarbeit mit der Polizei hat sich in der letzten Zeit enorm verbessert. Das ist eine sehr positive Entwicklung und bestätigt das, was im Vorfeld hier schon gesagt wurde: Es hängt im Einzelfall oft sehr davon ab, mit wem man gerade zusammenarbeitet. Wenn man Glück hat, hat man enorm gebildete und engagierte Beamt_innen, die die Vorfälle ernst nehmen und entsprechend einordnen und verfolgen. Aber es gibt eben auch Fälle, bei denen einzelne Beamt_innen so reagieren, dass man den Eindruck hat, dass sie das Problemfeld überhaupt nicht ernst nehmen.

Das Problemfeld Antisemitismus ist ein spezielles, auch in Bezug darauf, dass wir in unseren Gemeinden eine sehr große Zahl an Zugewanderten haben. Das heißt, es sind Menschen, die aus den Regionen der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind und zum Großteil dann auch „doppelt markiert“ sind. Sie sind nicht nur gegebenenfalls als Jüdinnen oder Juden identifizierbar, sondern auch als „Fremde“, Ausländer_innen, Migrant_innen und so weiter. Oftmals, wenn es sich um ältere Leute handelt – bei den jüngeren nicht –, gibt es noch sprachliche Hindernisse und große Vorbehalte, zur Polizei zu gehen und dort Vorfälle zu melden. Das ist ähnlich dem, was wir hier im Vorfeld schon gehört haben: Die Anzeigebereitschaft ist sehr gering, weil man fürchtet, nicht ernst genommen zu werden und einer Anzeige keine Erfolgsaussichten einräumt. Das bedeutet letztlich: Das Vertrauen in den Rechtsstaat, die Polizei, die Meldebehörden oder auch die Justiz, die an der Stelle wirklich wichtig ist, ist gerade im Themenfeld Antisemitismus nicht sehr hoch. Antisemitismus tritt in den unterschiedlichsten Formen auf. Er kann sich als sogenannte Israelkritik verbrämen, er kann zum Beispiel muslimisch motiviert sein, er kann rechtsextrem motiviert sein, er kann aus der linken Ecke kommen, wie etwa die BDS-Kampagne7 als Bewegung, deren Wirkungskraft man nicht unterschätzen sollte. Ein anderes Beispiel ist der Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal im Jahr 2014, den zum Beispiel das Gericht sehr eindeutig als angeblich ausschließlich antiisraelisch motiviert eingeordnet hat. Das passierte im Kontext der Gaza-Kriege, auf die ganz klar Bezug genommen wurde. Das Gericht behauptete ernsthaft, es handele sich nicht um Antisemitismus, sondern wahrscheinlich eine „spezielle“ Art der Israelkritik – obwohl versucht wurde, eine Synagoge in Deutschland anzuzünden. Aus der Sicht der jüdischen Gemeinschaft handelt es sich hier um ein Skandalurteil. Darüber hinaus sind wir aber zum Beispiel auch mit Vorfällen konfrontiert, die ganz offen antisemitisch und gewalttätig sind. Es gab diese Gürtel-Attacke8 eines arabischstämmigen Jugendlichen auf eine Kippa-tragende Person in Prenzlauer Berg und den rechtsextremistisch motivierten Angriff in Chemnitz auf das jüdische Restaurant Schalom9.

Janine Dieckmann:
Wie bewerten Sie aus Ihrer Perspektive die derzeitige PMK-Erfassung von antisemitischer Hasskriminalität?

Eva Drubig:
Unser Problem damit ist die Frage – und das wird in jüdischen Kreisen intensiv diskutiert, wie differenziert Vorfälle aufgenommen werden, besonders in Hinblick auf den sogenannten „muslimischen Antisemitismus“, genauer gesagt den Antisemitismus unter Muslimen. Es gibt eine massive Häufung von Vorfällen in diesem Bereich und die Frage ist: Wie genau kann man diese erfassen? Es geht dabei nicht darum, Leute zu diskriminieren, zu konnotieren oder zu benennen, sondern darum, Gegenmaßnahmen und Konzepte zielgerichtet entwickeln zu können – sowohl im Bereich Pädagogik als auch im Bereich der Prävention sowie im Weiterbildungsbereich. Das ist unser Anliegen, das möchten wir als Zentralrat noch einmal ganz deutlich machen. Ich möchte Heike Kleffner völlig recht geben, wenn sie sagt: Die Frage des Ausmaßes antisemitischer und rassistischer Gewalt ist Teil eines politischen Deutungskampfes. Ich finde es zum Teil dramatisch, weil es der Sache extrem schadet, dass mit den Zahlen auch Politik gemacht wird oder die eine Form von Antisemitismus gegen die andere ausgespielt wird. Ich finde, der Zentralrat der Juden in Deutschland hat da eine sehr eindeutige Haltung: Er versucht, muslimischen Antisemitismus zu benennen und gleichzeitig immer unmissverständlich daran zu arbeiten, dass dieser nicht für eine politische Agenda vereinnahmt und missbraucht wird, sei es seitens der AfD oder von anderen Gruppierungen oder Parteien. Wir müssen jede Form von Antisemitismus ins Visier nehmen. Nur eine genaue Erfassung ermöglicht eine erfolgreiche Bekämpfung von Antisemitismus, ob er von rechts, von links, von der Mitte der Gesellschaft oder von Muslimen ausgeht.

Janine Dieckmann:
Vielen Dank! Herr Özata, warum ist die Einordnung von Hasskriminalität gerade in den Gerichtssälen und in Ihrer Arbeit als Rechtsanwalt so wichtig? Was bedeutet diese Einordnung für Betroffene, Angehörige bzw. die gesamte soziale Gruppe?

Onur Özata:
Vielleicht mache ich das an einem Beispiel aus der Praxis fest. Es hat Ende 2017 in Plauen einen Brandanschlag auf ein Haus mit vielen Bewohner_innen gegeben, die Roma sind. Dabei gab es sehr viele Verletzte. Ich vertrete mit einigen Kolleg_innen zusammen Betroffene und ich glaube, dass dieser Fall sehr repräsentativ dafür ist, wie mit Sinti und Roma in unserem Land umgegangen wird: Die Betroffenen haben uns Rechtsanwält_innen geschildert, dass sie überhaupt nicht ernst genommen wurden mit ihren Gedanken, dass nicht richtig zugehört wurde, dass sie von oben herab behandelt wurden. Gleiches erleben viele Sinti und Roma in Deutschland heutzutage.

Ein weiterer Punkt ist, und das hängt auch mit dem Thema des institutionellen Rassismus zusammen: Dabei steht immer der Verdacht im Raum, die Betroffenen könnten selbst verantwortlich sein für diese Hasskriminalität und für die Taten, die ihnen widerfahren. In den Fragen, die Betroffenen gestellt werden, sind bestimmte Vorwürfe eingekleidet. Ihnen wird das Gefühl gegeben, dass sie irgendwie selbst dahinterstecken, auch wenn es teilweise sogar Tatverdächtige gibt. In diesem Fall gab es einen Tatverdächtigen. Wir wissen von dem Tatverdächtigen, dass er sich dahingehend geäußert und den Vermieter dafür verantwortlich gemacht haben soll, dass so viele „Zigeuner“, wie er es sagen würde, in diesem Haus leben. Der Brandanschlag war, das wird vermutet, eine Art Strafaktion oder Racheaktion dafür. Übrigens wissen wir über den Tatverdächtigen auch, dass er Kennverhältnisse zu anderen Neonazis hatte. Dennoch hat weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft ein rassistisches Motiv oder eine rechte Gewalttat ernsthaft in Betracht gezogen. Mantraartig hieß es immer wieder von der Staatsanwaltschaft, es liege kein rechter Hintergrund vor. Der Oberbürgermeister von Plauen hat auch gleich gesagt: Hier liegt keine rechte Tat vor – ohne das überhaupt wissen zu können. Zu dem Zeitpunkt war einfach noch nicht so viel ermittelt und nicht so viel bekannt. Es ist ein Problem, das nicht nur Sinti und Roma betrifft, sondern häufig bei rechten oder rassistischen Gewaltdelikten vorkommt: Entscheidungsträger_innen sagen, es liege keine rechte Gewalt, kein rechter Hintergrund vor. Sie verharmlosen, negieren bzw. relativieren damit die Vorfälle. Für die Opfer, die Betroffenen selbst, ist es aber häufig ganz klar. Sie wissen, was und wer damit gemeint ist. Sie erleben das in ihrem Alltag. Gerade Sinti und Roma sind sehr stark von Alltagsrassismus betroffen. Auf dem Wohnungsmarkt beispielsweise werden ihnen regelmäßig Ramschimmobilien angedreht. An richtige ordentliche Wohnungen kommen sie kaum ran. Auf dem Arbeitsmarkt bekommen sie eher im Niedriglohnsektor Arbeit, wenn überhaupt. Wenn man von staatlicher Seite die rassistische oder die rechte Konnotation verkennt, dann ist das für viele immer eine Missachtung ihrer eigenen Lebenserfahrung und Lebenswelt. Das Problem ist auch: In dem Moment, in dem wir zu schnell einen rechten oder rassistischen Tathintergrund ausschließen, entfallen die Möglichkeiten zur Opferentschädigung. 

Janine Dieckmann:
Jetzt eine Frage ans gesamte Podium: Was wünschen Sie sich bei der Einführung oder bei der genaueren Diskussion um das Konzept „Hasskriminalität“ in Deutschland? Wie wirkt sich das für Ihre Arbeitsbereiche aus bzw. für die Betroffenengruppen, die sie vertreten? 

Eva Drubig:
Für uns ist generell eine detaillierte Erfassung wichtig. Wir brauchen eine genaue Dokumentation, damit wir Antisemitismus möglichst gezielt bekämpfen können. Für uns ist es relevant, genau aufzuschlüsseln, aus welcher Ecke der Antisemitismus kommt. Wir brauchen zudem dringend die Aus- und Weiterbildung von Polizist_innen, Lehrer_innen, Jurist_innen, Journalist_innen – und übrigens auch in der Bundeswehr; das ist ein weiteres, interessantes Themenfeld im Bereich Antisemitismus, bei dem ganz viel passieren muss. Wenn das Wort Rassismus fällt, würde ich mir zudem wünschen, dass Antisemitismus nicht hinten runterfällt, sondern auch benannt wird. Antisemitismus ist keine Unterform von Rassismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sondern hat eine eigene Spezifik. Wer von Rassismus redet, darf auch über Antisemitismus nicht schweigen.

Jenny Renner:
Ich möchte zwei Punkte stark machen: Wir brauchen einen nationalen Aktionsplan, der in Abstimmung mit den Bundesländern ganz klar festschreibt, wie erfasst wird, welche Präventionsmaßnahmen vorhanden sind und wo es Ansprechpartner_innen gibt. In den Städten ist das alles wunderbar – zumindest auf den ersten Blick. Der zweite Punkt ist tatsächlich die konkrete Frage an die Betroffenen: Warum denkst Du – warum bist Du Opfer dieser Gewalttat geworden? Was für eine Vermutung hast Du, welchen Hintergrund das haben könnte? Es ist wichtig, dass die Opferperspektive eingenommen wird.

Paul Neupert:
Ich kann mich meinen Vorredner_innen in allen Punkten anschließen. Wir brauchen eine gute Dokumentation und wir brauchen eine angemessene Würdigung der Opfer. Man muss die Opferperspektive einnehmen, um Betroffene nicht ein zweites Mal, z. B. auf der Polizeiwache, zu diskriminieren und zu viktimisieren. Ein ganz wichtiger Punkt ist: die Menschen und die gesamte Gesellschaft dafür zu sensibilisieren. Das Konzept der Hasskriminalität halte ich insofern für einen interessanten Ansatz. Ich bin gespannt darauf, was die weiteren Diskussionen bringen. Unser zentrales Anliegen in der Wohnungslosenhilfe ist es, dass Menschen mit Wohnraum versorgt werden – denn eine Wohnung ist der beste Schutz. Dieser Ansatz unterscheidet unsere Klient_innen von den anderen Betroffenengruppen, denn man kann und sollte die Leute nicht dazu bringen, ihre Religion oder ihre sexuelle Orientierung aufzugeben, um nicht mehr Opfer von Gewalt zu werden. Eine Wohnung aber sollte jede_r haben.

Onur Özata:
Vielleicht ist ein weiterer wichtiger Punkt, dass wir mehr über Rassismus sprechen, damit wir verstehen, wie manifest er in der Mitte der Gesellschaft ist. Ich habe einen Mandanten vertreten, dem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen wurde. In der Akte gab es drei, vier Polizeiaussagen, die relativ eindeutig waren. Er selbst stammt aus Guinea-Bissau und die Aktenlage sah für ihn überhaupt nicht gut aus. Wir sind trotzdem vor Gericht gegangen. Als wir reinkamen, meinte die Amtsanwältin, sie habe die Akten gar nicht gelesen und sie würde einfach das tun, was die Richterin sagt. Die Richterin hatte ebenso wenig Lust auf das Verfahren und fragte, ob man die ganze Sache nicht einstellen wolle. Der Mandant und ich haben uns natürlich gefreut und die Sache wurde tatsächlich eingestellt. Aber bei der offiziellen Begründung sagte sie, seine Landsleute aus Guinea-Bissau würden öfter wegen Drogenkriminalität dasitzen, er solle das bloß nicht machen und aufpassen. Es gab aber gar keinen Drogenbezug in der Akte. Die Aussage der Richterin war einfach eine rassistische Ansage, das ist rassistisches Verhalten und das gehört da nicht hin. Wir verließen den Gerichtssaal dann alle irgendwie down. Ich glaube, die Richterin hat gar nicht gemerkt, dass sie rassistische Ressentiments reproduziert hat.

 

 

1

Anmerkung der Redaktion: vgl. www.bagw.de.

2

Anmerkung der Redaktion: vgl. www.bagw.de/de/themen/gewalt/statistik_gewalt.html.

3

Vgl. www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf (S. 19) [19.11.2018].

4 Vgl. Pollich, Daniela (2015): Gewalt gegen Wohnungslose – Täterbezogene Ergebnisse einer Aktenanalyse. In Jordan, Rolf [Hrsg.]: Wohnungslosenhilfe mischt sich ein. Strategien gegen zunehmende Armut und sozialen Ausschluss. Materialien zur Wohnungslosenhilfe (MzW) Band 63. BAGW-Verlag: Berlin.

5 Anmerkung der Redaktion: Akronym für „Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans Gender, Transsexuelle und intergeschlechtliche Personen“.

6

Anmerkung der Redaktion: Anti-Gewalt-Projekt für Lesben, vgl. www.l-support.net.

7 Anmerkung der Redaktion: BDS steht für „Boycott, Divestment and Sanctions“ (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), eine internationale, antizionistische Kampagne, die Israel kulturell, politisch und wirtschaftlich isolieren will.

8

Anmerkung der Redaktion: Eine Gruppe arabisch sprechender Männer griff einen 21-jährigen Israeli an und beschimpfte ihn antisemitisch, u. a. als „Yahudi“, das arabische Wort für „Jude“; einer der Männer schlug mit einem Gürtel auf ihn ein, vgl. Kerstin Gehrke (2018): „Ich fühlte mich im Recht“. Online: www.tagesspiegel.de/berlin/prozess-nach-kippa-angriff-in-berlin-ich-fuehlte-mich-im-recht/22708112.html [08.11.2018].

9

Anmerkung der Redaktion: Im Zuge der rechten Ausschreitungen in Chemnitz wurde auch ein jüdisches Restaurant angegriffen. Der Restaurantbesitzer berichtete, aus einer Gruppe heraus seien Gegenstände auf die Gaststätte geworfen, unter Rufen wie „Judensau, verschwinde aus Deutschland“, vgl. Der Tagesspiegel (2018): Wirt zeigt Attacke auf jüdisches Restaurant in Chemnitz an. Online: www.tagesspiegel.de/politik/sachsen-wirt-zeigt-attacke-auf-juedisches-restaurant-in-chemnitz-an/23012188.html [08.11.2018].