Problemaufriss
„Du rennst wie ein Mädchen.“
„Das ist schwul.“
„Bist du behindert?“
Das sind gängige Beleidigungen auf deutschen Schulhöfen und darüber hinaus (vgl. Ceylan 2013, 1). Die damit einhergehende Abwertung bestimmter Eigenschaften und Lebensrealitäten spiegelt die Haltung großer Teile der Gesellschaft wider. Obwohl in Artikel 3 des Grundgesetzes geschrieben steht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und niemand aufgrund seines Geschlechts oder einer Behinderung benachteiligt werden darf, herrschen gesellschaftliche Strukturen, die bestimmte Menschen exkludieren und diskriminieren (vgl. Beigang et al. 2017, 94). Sie werden durch verschiedenste Barrieren an gesellschaftlicher Teilhabe gehindert. Diese Strukturen führen dazu, dass sogar schon Kinder eine normative Hierarchisierung bestimmter Merkmale und damit gesellschaftliche Positionierung von gesellschaftlichen Teilgruppen internalisieren und auf oben genannte Art und Weise zum Ausdruck bringen.
Diskriminierungsmerkmale können zum Beispiel eine zugeschriebene Herkunft oder ein bestimmtes Geschlecht sein. Besonders prekär wird es, wenn Personen mehrere Differenzkategorien in sich vereinen. Wenn sie beispielsweise sowohl aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als auch wegen ihrer BeHinderung1 benachteiligt werden (vgl. LAG Lesben in NRW e. V. 2020, 12).
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit BeHinderung wurde lange nicht anerkannt. „Erst seit den 1980er Jahren entstand mit dem ‚Normalisierungsprinzip‘ eine emanzipatorische Bewegung, die die sexuellen Wünsche und deren Verwirklichung auch bei Menschen mit Handicap ernst nimmt“ (Rosenberg 2016, 6). Dieser Prozess zieht sich bis heute und ist in Bezug auf LSBTIQ*-Belange noch rückschrittlicher.
Menschen mit BeHinderung, die sich als queer identifizieren, sind besonders von intersektionaler Diskriminierung betroffen. Vor allem die Untersuchung der Lebensrealitäten und Auswirkungen für queere Menschen mit BeHinderung werden bisher in der Forschung häufig vernachlässigt. Dementsprechend gestaltet sich auch die Praxis der Sozialen Arbeit. Strukturen, die auf die Bedürfnisse von LSBTIQ*-Personen ausgelegt sind, denken Menschen mit BeHinderung nicht mit. Sie sind häufig unzugänglich für Personen mit Beeinträchtigungen (z. B. der Mobilität). Auf der anderen Seite gibt es kaum Angebote für Menschen mit BeHinderung, die auch queere Interessen inkludieren und thematisieren. Aus diesem Grund benennt dieser Beitrag2 Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit, um die gesellschaftliche Teilhabe von queeren Menschen mit BeHinderung zu erhöhen.
Forschungsstand
Wie bereits aufgeführt, wurde bisher wenig zur Wechselwirkung der Differenzmerkmale Queerness und BeHinderung geforscht. Das Thema wurde in Deutschland erstmalig 2001 in der Veröffentlichung „Doppelt Anders“ untersucht (vgl. Rudek und Sülzle 2018, 9). Es folgten Veröffentlichungen von Katja Ulbricht (2003), dem Verein Lambda (2007) oder Gesa C. Teichert (2014), welche sich mit den Lebensrealitäten lesbischer und schwuler Menschen mit BeHinderung auseinandersetzen. Was diese Veröffentlichungen eint, sind die fehlenden Perspektiven von trans- und intergeschlechtlichen Personen mit BeHinderung. Da die wenige Literatur, die es gibt, den Schwerpunkt auf beeinträchtigte Lesben und Schwule legt, können keine „valide[n] aktuelle[n] Aussagen über die Lebenssituation von transsexuellen und intersexuellen Menschen mit Behinderungen“ (Rosenberg 2016, 10) getroffen werden. Dabei sind laut ersten Untersuchungen trans* Personen am häufigsten von Abwertung und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit betroffen (vgl. LAG Lesben in NRW e. V. 2020, 11). Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, die Perspektive auf trans* und inter* zu erweitern. Eine der neusten Studien aus dem Jahr 2020 stellt einen deutlichen Kontrast zu bisherigen Forschungen dar. Sie trägt den Titel „Lebenswirklichkeiten und Problemlagen von LSBTIQ* mit unterschiedlichen Formen der Behinderung, chronischen Erkrankungen, psychischen und sonstigen Beeinträchtigungen“ (LAG Lesben in NRW e. V. 2020), stellt sehr gut die diversen Diskriminierungserfahrungen heraus und hebt die intersektionalen Verknüpfungen hervor.
„[...] nicht mal trans* genug“
Um einen ersten Einblick in die Lebenswelt der genannten Personengruppen zu erhalten, wurden vier qualitative Interviews durchgeführt. Die Befragten haben alle unterschiedliche Sexualitäten, Geschlechtsidentitäten und Beeinträchtigungen. Ihr Alter liegt zwischen 20 und 47 Jahren. Die Daten wurden durch eine qualitative Inhaltsanalyse strukturiert, um sie vergleichbar zu machen. Im vorliegenden Beitrag werden insbesondere die intersektionalen Diskriminierungserfahrungen, Auswirkungen einer BeHinderung auf Queerness und die Möglichkeiten der Sozialen Arbeit zu intervenieren dargestellt.
Die Ergebnisse zeigen, dass zunächst die fehlende gesellschaftliche Sichtbarkeit dieser Gruppen als problematisch zu betrachten ist. Aufgrund dessen ist es für viele LSBTIQ*-Personen mit BeHinderung nicht möglich, sich mit anderen zu identifizieren. Das kann zu erhöhten Selbstzweifeln führen, was wiederum zur Folge haben kann, dass manche ihre queere Identität unterdrücken. In den Interviews wurde außerdem die mangelnde Kompetenz und Überforderung von Mitarbeitenden in Beratungsstellen und Jugendzentren kritisiert. Einer der Befragten gibt an:
„[...] was so wirklich Beratung angeht, habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass das nicht wirklich funktioniert, weil diese beiden Themen miteinander zu verbinden [...] für viele Menschen, die in der Beratung sind, dann zu schwierig ist“ (I4).
Ratsuchenden kann oft nicht geholfen werden, da die Mitarbeiter*innen nicht auf intersektionale Anliegen spezialisiert sind und es dadurch nicht gelingt, „diese beiden Themen miteinander zu verbinden“ (I4).
Oft wird Menschen mit BeHinderung die Kompetenz abgesprochen, sich einer queeren Identität bewusst zu sein. Einer der Befragten schildert, von seiner Kinderpsychiaterin die Empfehlung erhalten zu haben, sich keine offizielle Autismus-Diagnose ausstellen zu lassen, da es sein kann, „dass [er] dann schwieriger an Testosteron rankomm[t]“ (I1). Das dafür notwendige psychiatrische Gutachten könne infrage stellen, ob er „psychisch in der Lage“ sei, sich dafür zu entscheiden (ebd.). Dies ist sehr problematisch, aber kein Einzelfall. Auch frühere wissenschaftliche Ausarbeitungen (u. a. Wienholz et al. 2013) sprechen Jugendlichen mit BeHinderung die Fähigkeit ab, „selbst beurteilen zu können, ob gleichgeschlechtliche Erfahrungen nur ‚temporäres Neugierverhalten‘ oder eine ‚tatsächliche manifestierte sexuelle Orientierung´ sind“ (Michl 2021, 26). Auch trans* Personen werden, wie im oben genannten Beispiel deutlich wird, unter Umständen aktiv daran gehindert, ihre Transidentität auszuleben.
Ein weiteres Beispiel, das deutlich macht, inwiefern die Geschlechtsidentität mancher Menschen mit BeHinderung nicht anerkannt wird, trug sich für die interviewte Person im Jobcenter zu, als die Person dort erklärte, trans* Mann zu sein und Autismus zu haben (I1). Daraufhin wurde die Person gefragt, „ob das denn geht [und] ob [er] halt so psychisch in der Lage“ ist das zu beurteilen (ebd.). Erneut wird einer queeren Person mit BeHinderung die geschlechtliche Identität abgesprochen. Darüber hinaus wurde er bei der Einteilung der Berufsfelder nach Geschlecht der Kategorie „weiblich“ zugeordnet. Das unterstreicht die vorherige Aussage erneut und stellt eine cis-sexistische Diskriminierung dar, die auf einer ableistischen Haltung beruht. Es zeigt sich: Das Problem der „Nichtanerkennung der sexuellen Orientierung oder Geschlechtlichkeit aufgrund der Behinderung entsteht explizit durch die Wechselbeziehung der beiden Kategorien sexuelle bzw. geschlechtliche Vielfalt und Behinderung“ (Michl 2021, 27).
Ein weiterer Aspekt von Exklusionserfahrungen für Menschen mit BeHinderung ist den Befragten zufolge eine Art Körperkult in Teilen der schwulen Community. Schönheitsideale seien von fettphobischen und ableistischen Attraktivitätsnormen geprägt (I1, I4). So werde beispielweise die Teilhabe an Datings erschwert, da Menschen mit körperlicher BeHinderung schon im Vorhinein aus den präferierten Idealen fielen. Eine andere Herausforderung für Menschen mit BeHinderung besteht darin, sich aufgrund fehlender szenetypischer äußerer Erscheinung nicht zu queeren Räumen zugehörig zu fühlen. Einer der Befragten erklärt, dass trans* Personen teilweise aufgrund ihrer BeHinderung (z. B. Immunerkrankung) keine Hormone nehmen können oder keine Operationen durchführen lassen können, „weil es der Körper einfach nicht hergibt“ (I1). Diese geschlechtsangleichenden Maßnahmen gehören für viele Personen der queeren Szene jedoch dazu, weswegen sich einige Personen mit BeHinderung nicht in queere Räume trauen. Sie fühlen sich „selbst nicht mal trans* genug“ (ebd.). Durch die „ziemlich starke[n] Ausgrenzungskriterien“ (I4) aus queeren Räumen gibt es dem Befragten folgend für Menschen mit BeHinderung einen eingeschränkten Zugang zu gewissen Informationen und der Austausch mit Peers wird erheblich erschwert. Dies kann dazu führen, dass Betroffene nicht die Möglichkeit haben, sich mit ihrer Sexualität bzw. ihrer Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen und sich aus diesem Grund in die heteronormative Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft einfügen.
Besonders bei LSBTIQ* mit Beeinträchtigung kann sich das Coming-out verzögern, auch wenn sie sich ihrer queeren Identität bewusst sind. Manchmal wird wegen Diskriminierungserfahrungen aufgrund einer BeHinderung „straight-acting“ (sich als heterosexuelle Person darstellen) betrieben, da sich beide Attribute zusammen ins Negative verstärken würden: „Das eine macht das andere noch dramatischer“ (I4).
Im Kontrast dazu wird Beeinträchtigung in einer Ausführung der Befragten auch als Ressource verstanden. Autistische Menschen hätten eine sehr hohe „trans*-Rate“, da sie die Gesellschaft nicht so stark in ihrer binären Struktur wahrnehmen würden (I1). Es falle ihnen leichter, sich individuell mit ihrer Identität auseinanderzusetzen und sich dabei weniger von der Gesellschaft beeinflussen zu lassen. Sie seien dann „entweder gender-nonconforming oder halt trans* oder non-binary oder genderqueer oder weiteres“ (ebd.). Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Differenzkategorien sind dementsprechend nicht ausschließlich negativ. Jedoch muss betont werden, dass viele autistische Personen in diesem Prozess eigenständig Begriffe erfinden, da viele kein binäres Geschlechtergefühl besitzen (I1). Wenn diese Begriffe bzw. Vorstellungen außerhalb von dem liegen, was neurotypische Personen (Menschen ohne definierten neurologischen Unterschied wie beispielsweise Autismus oder ADHS) unter trans* verstehen, „wird versucht [...] diese Identitäten von autistischen trans* Menschen [...] als invalide darzustellen oder [als] irgendwelche Hirngespinste“ (I1). Sich darüber hinwegzusetzen und für das zu kämpfen, was einem zusteht, dazu haben manche Personen „schlicht und ergreifend nicht die Kraft“ (I4). Denn eine BeHinderung kann manchmal auch gesundheitliche Auswirkungen haben (ebd.). Häufig müssen Personen mit Mehrfachzugehörigkeiten einen Teil ihrer Identität abspalten und verstecken, was zu einer zusätzlichen Belastung führen kann (vgl. LesMigraS 2012, 43).
Wie diese Ausführungen deutlich machen, werden queere Menschen mit BeHinderung auf verschiedensten Ebenen diskriminiert und ihnen wird ihre queere Identität aufgrund ihrer BeHinderung häufig abgesprochen. Sie werden oft aus queeren Communitys ausgeschlossen und an den genannten Beispielen wird deutlich, inwiefern die Kategorien sich wechselseitig bedingen. Aus diesem Grund sollte zukünftig ein intersektionaler Analyseansatz gewählt werden, um Diskriminierungen und Ausschlussprozesse zu untersuchen.
Fortschritte?
In Interview 4 wird ausgeführt, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gestiegen ist, sich mit entsprechenden Themen auseinanderzusetzen. Außerdem gebe es beispielsweise „immer mehr Leute, taube und queere Aktivistinnen, die sich diesen Themen annehmen“ bzw. finde eine gewisse Sensibilisierung innerhalb der queeren Szene statt (I3). Auch beim Christopher Street Day würden zunehmend mehr Dolmetschende vor Ort sein, um gehörlose Menschen zu erreichen (ebd.). Wie oben aufgeführt, gab es in den letzten Jahren kaum Studien zu den Lebenslagen von queeren Menschen mit BeHinderung. Es können dementsprechend keine umfassenden Aussagen zu ihren Bedürfnissen getätigt werden. Eine empirische Grundlage für Empfehlungen für Handlungsansätze und praktische Umsetzung (z. B. in Sozialer Arbeit) wäre jedoch nötig für mehr gesellschaftliche Teilhabe. Dieser Umstand spiegelt sich auch in den Ausführungen der Befragten wider. Drei der vier Befragten sind sich einig, dass es keine weitreichenden Veränderungen gegeben hat in den letzten Jahren. Eine der befragten Personen spricht von „marginalen“ Veränderungen, während eine andere sogar meint, es habe sich in Bezug auf Barrierefreiheit „überhaupt gar nichts“ geändert (I4, I2). Darüber hinaus gebe es deutliche Rückschritte – besonders wenn das Thema queere Aufklärung an Schulen betrachtet werde (I4). Vermeintlich ‚besorgte Eltern‘ wollten außerdem die Inklusion von Menschen mit BeHinderung an Schulen zurückdrehen (ebd.).
Besonders kritisch sieht einer der Befragten die Entwicklungen auf parteipolitischer Ebene (ebd.). Er hält es für sehr rückschrittlich, dass wir mittlerweile eine Partei „haben, die offen menschenverachtendes [und] Queer verachtendes und Behinderten verachtendes Gedankengut von sich gibt und das ungestraft im Deutschen Bundestag machen kann“ (ebd.).
Handlungsmöglichkeiten
Nachdem anhand der Studienergebnisse aufgezeigt wurde, mit welchen Herausforderungen durch Marginalisierung und Diskriminierung LSBTIQ* Menschen mit BeHinderung innerhalb unserer Gesellschaft konfrontiert sind, sollen nun exemplarisch Handlungsmöglichkeiten Sozialer Arbeit dargestellt werden, um Teilhabe zu verbessern.
Beratung und Begleitung
Es ist wichtig, Mitarbeitende in queeren Beratungsstellen und in Beratungsstellen für intersektionale Anliegen von Menschen mit BeHinderung zu schulen. Darüber hinaus sollten bedürfnisorientierte Beratungsangebote spezifisch für LSBTIQ*-Personen mit BeHinderung geschaffen werden. Diese müssen barrierearm sein, indem sie beispielsweise Verdolmetschung in Gebärdensprache anbieten. Außerdem sollten diese Beratungsstellen zu strafrechtlich relevanten Vorkommnissen (Hasskriminalität) in Leichter Sprache informieren können. Ein Interviewpartner betont, ihm seien „aus heutiger Perspektive auch ein paar Straftaten begegnet“, jedoch sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er diese hätte zur Anzeige bringen können (I4).
Kita- und Schulsozialarbeit
Sozialarbeiter*innen in der Kita- und Schulsozialarbeit könnten themenspezifische Projekttage initiieren, um die Sichtbarkeit dieser Personengruppe zu erhöhen. Zudem wäre die Bereitstellung von Materialien zur Normalisierung einer Lebensführung außerhalb des heteronormativen Rahmens sinnvoll. Dazu könnten beispielsweise Puppen, welche unterschiedliche BeHinderungen sichtbar machen, oder Literatur mit entsprechenden Protagonist*innen zur Verfügung gestellt werden.
Offene Kinder- und Jugendarbeit
Auch in diesem Bereich müssen Sozialarbeiter*innen für die Bedarfe von intersektionalen Anliegen queerer Menschen mit BeHinderung sensibilisiert und geschult werden. Unter anderem dadurch wäre es möglich, Angebote zu schaffen, die speziell für diese Personengruppen konzipiert sind. Eine befragte Person gibt beispielsweise an, zu einem Camp der Deutschen Gehörlosenjugend zum Thema „Taub und Queer“ geladen worden zu sein. Dort war es das erste Mal, dass die Person „wirklich beide Identitäten offen [...] vereinen konnte bei einer Veranstaltung“ (I3).
Stationäres Wohnen
Es ist von großer Relevanz, dass sich Mitarbeitende auch in diesem Handlungsfeld fortbilden lassen. Anschließend können Bewohner*innen etwa über vielfältige Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten informiert und mit ihren Anliegen sensibel umgegangen werden. Denn wenn Informationen außerhalb von heteronormativen Lebenskonzepten zugänglicher gemacht werden, können sich Personen leichter mit ihrer Sexualität und Identität auseinandersetzen. Eine weitere mögliche Maßnahme der Sozialen Arbeit ist die Schaffung von Wohneinrichtungen spezifisch für LSBTIQ* mit BeHinderung. Die Separierung von Personen in der BeHindertenhilfe, durch beispielsweise die gesonderte Unterbringung, ist gleichzeitig ein großes Problem. Jedoch wird es aufgrund des hohen Maßes an alltäglicher Diskriminierung als sinnvolle Option erachtet, einen Safer Space als Wohnraum zu errichten. Darüber hinaus wäre es dort möglich, sich mit Peers auszutauschen und Bewältigungsstrategien anzueignen.
Streetwork und Quartiersmanagement
Sozialarbeiter*innen, die in dem Bereich Streetwork bzw. Quartiersmanagement tätig sind, könnten mit lokalen Betrieben in Kontakt treten und über Möglichkeiten des Abbaus von Barrieren informieren. Das könnte z. B. die dauerhafte Einführung von Untertiteln im Kino sein, die sich zwei Befragte gewünscht haben (I1,3).
Ministerien und Gremienarbeit
Es ist wichtig, Bürger*innenbefragungen durchzuführen und dabei explizit queere Menschen mit BeHinderung einzuladen bzw. das Angebot entsprechend niedrigschwellig zu gestalten. Auf diese Art und Weise können gezielt Bedürfnisse in Erfahrung gebracht und nach Priorität umgesetzt werden. Darüber hinaus müssen die Lehrpläne in Ausbildungsstätten für z. B. Heilpädagog*innen, Sozialarbeiter*innen und Lehrkräfte angepasst werden. Sie müssen für diverse Bedarfe queerer Menschen mit BeHinderung sensibilisiert werden, um in ihrer späteren beruflichen Praxis möglichst bedürfnisorientiert und inklusiv agieren zu können. Zudem muss die Auseinandersetzung mit queeren Lebensrealitäten auch in Verbindung mit BeHinderung in den Lehrplänen aller Schulformen integriert sein. Kampagnen der Städte und Länder diverser zu gestalten ist ein weiterer Ansatzpunkt. Dies dient ebenfalls der erhöhten Sichtbarkeit innerhalb der Gesellschaft. Zudem ist es wichtig, bürokratische Prozesse zu vereinfachen, z. B. die Kostenübernahme von Verdolmetschung. Außerdem wären Informationen zur Änderung des Geschlechtseintrags bzw. des Namens in Leichter Sprache hilfreich.
Aufklärungs- und Bildungsbereich
Laut einem Befragten sei das Thema Sexualität und BeHinderung „ein absolutes Tabuthema bis heute“ (I4). Dies zu ändern kann durch Bildungsarbeit angestrebt werden. Ein Teil dieser Enttabuisierung kann durch Workshops zu vielfältiger Sexualität und Geschlechtlichkeit an Schulen (insbesondere Förderschulen) erwirkt werden.
Begegnungsräume/Community-Treffs
Um Begegnungsräume für queere Menschen inklusiver zu gestalten, müssen diverse Barrieren abgebaut und Angebote niedrigschwelliger gestaltet werden. Dazu sei es etwa wichtig, für eine reizarme Umgebung zu sorgen (I1). Es sollte auf eine nicht zu hohe Lautstärke geachtet und eine gewisse Teilnehmendenzahl nicht überschritten werden (ebd.). Sowohl in den geführten Interviews als auch in den vorangegangenen Studien ist die Rede von Ruheräumen (vgl. Rudek und Sülzle 2018, 37). Zudem könnten konkrete Ablaufpläne das Wohlbefinden steigern und dafür sorgen, dass Menschen ihre Kapazitäten besser einteilen können (I1). Auch sollten sich Räume für Menschen mit BeHinderung mit den Belangen von LSBTIQ* auseinandersetzen. So wird beispielsweise von einer befragten Person die taube Community als „nicht so offen gegenüber dem Thema Queerness“ (I3) wahrgenommen und dementsprechend „das Thema erstmal nicht von [ihr] aus [angesprochen]“ (ebd.).
Es sei besonders wichtig, solche inklusiven Angebote nicht nur in Städten, sondern auch ländlichen Gebieten anzusiedeln. Ein Interviewpartner hat besonders in seiner Coming-out-Phase die Erfahrung gemacht, sehr mobil sein zu müssen, um andere queere Menschen kennenlernen zu können „und gerade dieses Mobil-sein ist sicherlich im Rollstuhl dann sehr eingeschränkt“ (I4). Dementsprechend häufig von Eltern oder Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen abhängig zu sein, stellt eine starke und problematische Autonomiebegrenzung dar.
Digitale Angebote
Im Bereich digitaler Angebote hat die Soziale Arbeit bisher wenig zu bieten. Doch besonders in der Arbeit mit Menschen mit BeHinderung gibt es große Potenziale. Laut einem Interview gebe es „sehr viele Leute, die queer und autistisch sind im Internet“ (I1). Dort sei man vor „sensory overload“ geschützt und könne sich freier ausleben (ebd.).
Diskussion
Queere Menschen mit BeHinderung sind auf allen Ebenen von Diskriminierung betroffen. Für manche Betroffene ist die Erfahrung von Benachteiligung bereits zur Normalität geworden. Wenn Menschen beHindert werden, kann sich das erheblich auf das Ausleben ihrer queeren Identität bzw. Sexualität auswirken. Vielen wird es erschwert, sich zu outen, da ihnen entweder Informationen nicht zugänglich gemacht werden oder ihnen die Kompetenz abgesprochen wird, sich einer Geschlechtsidentität bzw. Sexualität außerhalb der heteronormativen Praxis bewusst zu sein. Sie werden darüber hinaus häufig entweder aufgrund ihrer äußeren Erscheinungen oder der Unzugänglichkeit der Szene aus der queeren Community ausgeschlossen.
Der Wunsch nach mehr Akzeptanz, der von allen Befragten deutlich gemacht wurde, kann nur gesamtgesellschaftlich erreicht werden, indem mehr Bildungsarbeit betrieben wird.
Der Bedarf an Beratung und Unterstützung wird sich voraussichtlich in den nächsten Jahren erhöhen. Je mehr diese Themen entstigmatisiert werden und je mehr sich die queeren Räume öffnen, umso mehr Menschen mit BeHinderung reflektieren ihre eigene Geschlechtsidentität bzw. Sexualität. Es könnte dementsprechend vermehrt zu Coming-outs und offener Auslebung einer queeren Lebensweise kommen. Jedoch ist gleichzeitig das momentane Erstarken von rechten Parteien zu konstatieren. Da diese sich queer- und behindertenfeindlich äußern, könnte es häufiger zu Diskriminierung von LSBTIQ* mit Beeinträchtigung kommen. Um die dadurch eventuell entstehende Nachfrage an Unterstützung abzudecken, sollte die Soziale Arbeit ihre Angebote erweitern.
Jeder Mensch hat das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, in dem er seine Sexualität und Geschlechtsidentität nach eigenen Vorstellungen frei entfalten kann. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Person beHindert wird oder nicht. Es ist egal, welches Geschlecht die Person hat und von welchem Geschlecht sie sich sexuell angezogen fühlt. All jene, die sich selbst zeigen, wie sie sind und dafür von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden, sollten Unterstützung von der Sozialen Arbeit erhalten. Dies kann nur gelingen, wenn entsprechende Daten über verschiedenste Lebenswelten und Bedürfnisse erhoben werden, um Unterstützungsangebote niedrigschwellig und divers zu gestalten.
Lea Doll, Studentin an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Bachelorstudiengang Soziale Arbeit; ehrenamtliches Mitglied im Verein platz*machen e. V.
1 BeHinderung: Diese Schreibweise ist häufig in aktivistischen Kontexten zu finden. Das großgeschriebene H soll die Barrieren symbolisieren, denen Menschen, die beHindert werden, ausgesetzt sind. Es soll im Lesefluss stören und die Leser*innen zum Hinterfragen anregen.
2 Der Beitrag beruht auf der Bachelor-Arbeit der Autorin, welche 2024 an der Hochschule Magdeburg-Stendal abgeschlossen wurde.
Literaturverzeichnis
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