Vorrede
Der Titel dieses Beitrages mutet nahezu wie eine dogmatische Feststellung an – und das gleich in doppelter Hinsicht: Es gibt (die) eine Heilpädagogik und diese findet in einer Gesellschaft statt, welche sich grundlegend als gespalten analysieren und beschreiben lässt. Auf der einen Seite der Argumentationslinie kann es doch nicht so einfach sein: Eine monokausal zu definierende Profession befindet sich einer sozialen und historischen Situation, welche sich primär durch ein Kennzeichen, nämlich das der Spaltung, auszeichnet. So einfach war eine soziologische und politische Analyse nie – und wenn sie es versuchte, erwies diese sich immer als zu kurz gesprungen. Die hoch subjektiv konstruierte Welt des 21. Jahrhunderts kann doch nicht so lapidar und banal erklärt werden. Zu viele Einflussfaktoren bestimmen alle möglichen Ausprägungen unterschiedlichster Sozietäten, sodass eine einzige Erklärung für deren Sein und Werden niemals die Wahrheit treffen kann – wenn es denn dann eine solche überhaupt gibt bzw. geben kann. Des Weiteren geht die Argumentation, bis zu diesem sehr frühen Zeitpunkt, davon aus, dass auch die Heilpädagogik als solche (als Beruf, als Profession, als Ausbildung, als Studium) über einen strukturellen und argumentativen Leisten zu schlagen sei – was aber im wirklichen Leben in den heilpädagogischen Handlungsfeldern sicher nicht so sein wird.
Auf der anderen Seite dieses – noch zu führenden Diskurses – erscheint somit die Gesellschaft in unterschiedlichste Teilgesellschaften zersplittert, ja fast schon atomisiert. Der systemtheoretisch-analytische Vorschlag von Niklas Luhmann, einzelnen Teilsystemen (wie der Wirtschaft, der Politik und der Religion) autonome und autopoetische Strukturmerkmale zuzuweisen, mit welchen diese sich dann, als Systeme, von den jeweils anderen Umwelten abgrenzen, erscheint auf diesem Hintergrund schon fast erkenntnistheoretisch grobschlächtig. Zu vielfältig, zu unterschiedlich, zu diffus haben sich die gesellschaftlichen Wesenheiten in den letzten Jahrzehnten entwickelt. In den letzten Jahren tragen sicher auch die zunehmende Digitalisierung und die (nicht immer ganz so) sozialen Internet-Netzwerke einen entscheidenden Anteil zu dieser Situation bei. Es kann schwierig noch von eindeutigen und abgrenzbaren Systemen und Systemgrenzen gesprochen werden. (Obwohl an dieser Stelle keine Kritik an der Theorie von Luhmann erfolgen soll und kann – sie dient nur dazu, die gleichzeitig auftretende argumentative Unschlüssigkeit und Uneindeutigkeit der gesellschaftlichen Situation zu diesem Zeitpunkt dieses Jahrhunderts zu pointieren.) Diese ungeplante und unaufhaltsame Differenzierung gilt dann auch für jedwede Form eines Berufsstandes, einer Profession oder einer Handlungswissenschaft – so wie auch die Heilpädagogik als eine solche verstanden werden kann.
Wenn die gesellschaftliche Situation sich folglich als alles andere als eindeutig und eindimensional darstellen lässt, wenn dieses auch für die Heilpädagogik zu gelten scheint, warum denn dann dieser Beitrag? Greift er nicht schon an dieser Stelle, der Begründungen für sein Entstehen, zu kurz, da weder die hochgradig ausdifferenzierten Prozesse der sozialen Gestaltungskräfte noch diejenigen der vielfältigen und sich in Teilen inhaltlich und strukturell widersprechenden Entwicklungen einer noch sehr jungen Profession (die Heilpädagogik ist, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, noch keine hundert Jahre alt) auf einen, gar auf den argumentativen Punkt gebracht werden können? Allein einen solchen Versuch zu beginnen, erscheint wissenschafts- und erkenntnistheoretisch unredlich zu sein. Es scheint nicht nur so – es ist auch so. Zudem ist es inhaltlich und strukturell wahrscheinlich unmöglich – zumindest im Rahmen dieses kurzen Beitrages. Was also ist zu tun? Der Standpunkt dieses Beitrages ist nicht wirklich ein Standpunkt – in dem Sinne, dass er unverrückbare Positionen darlegen würde. Vielmehr ist er ein hypothesengeleitetes Angebot, die aktuelle Situation der Heilpädagogik in der Gesellschaft aus einer ganz bestimmten Perspektive wahrzunehmen und zu analysieren. Diese Perspektive bzw. diese perspektivischen Annahmen können als Vorschläge gelesen werden, wie sich die gegenwärtige Situation einer Profession in einer Gesellschaft auch beschreiben lässt. Hierzu werden in den nächsten Punkten folgende Schritte vorgeschlagen: Nach einem kurzen Diskurs über mögliche Spaltungsformen (in) der Gesellschaft wird die Postmoderne als eine mögliche Begründung zu diesen gesellschaftlichen Spaltungsprozessen vorgestellt. Im Anschluss hieran erfolgt eine ganz bestimmte Perspektivierung und Positionierung der Inklusion als mögliche Überwindung der Spaltung – zumindest wird sie als eines solche kritisch angefragt. Nach dieser dialektischen Auseinandersetzung mit der These der Postmoderne als Grundlegung für Spaltungsvorgänge und der Antithese, das Inklusion hierauf eine mögliche konstruktive Antwort sein könne, erfolgt in der Synthese eine Positionierung zur Demokratie und zum Demokratieversprechen als „politische Dimension von Inklusion“ im Anschluss an Geldner-Belli (2020, 13).
Beenden möchte ich diese kurze Einleitung und Vorrede mit einem herzlichen Dank an die Studierenden der Heilpädagogik der Katholischen Hochschule in Münster in den Sommersemestern 2022 und 2023. Mit ihnen durfte ich dieses Thema intensiv diskutieren. Sie haben mich zu einer kritischen Wahrnehmung meiner eigenen Perspektive auf diese Diskursgegenstände angeregt.
Ein kurzer Diskurs über mögliche Spaltungsformen (in) der Gesellschaft
Schon im Jahr 2016 verwies Zick im Rahmen der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung auf intensive Spaltungstendenzen in der deutschen Gesellschaft (Zick 2016, 203-218). Unter dem Titel „Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ stellt er u. a. fest] „Die Zivilgesellschaft ist gespalten und den Spalt zu überwinden, ist schwierig. [...] Gewalttaten, Hasskampagnen und die Verrohung der politischen Debatten haben Brücken eingerissen.“ (Zick 2016, 214) Achour folgert hieraus, dass
„(als) Indikatoren für eine Spaltung der Gesellschaft [...] das Ausmaß und die Entwicklung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, rechtspopulistischen und rechtsextremen Einstellungen herangezogen werden (können). Je stärker und länger diese drei Orientierungen in ihren unterschiedlichen Facetten und Ausdrucksformen in der Mitte der Gesellschaft verankert sind, desto fragiler und beschädigter ist die Demokratie und desto gespaltener ist das Land.“ (Achour 2018, o. S.)
Mit Bezug auf das Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (2016, 214) benennt sie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Etabliertenvorrechte, Abwertung von Langzeitarbeitslosen als weitere Indikatoren für eine gespaltene Gesellschaft (vgl.: Achour 2018, o.S.). Sie legt dar, dass
„[...] diese Orientierungen nicht generell zugenommen (haben), vielmehr sind Formen der (rechtspopulistischen) Ausgrenzung subtiler und anschlussfähiger geworden, wie das Einfordern von Etabliertenvorrechten. Ausgrenzungen beziehen sich fokussierter auf einzelne Gruppen wie Geflüchtete oder Menschen (zugeschriebenen) muslimischen Glaubens, aber auch auf Sinti und Roma.“ (Achour 2018, o. S.)
Im Rahmen dieses Textes zur Bedeutung von Spaltungstendenzen für die Heilpädagogik ist die schon sehr frühe Nennung von Menschen mit Behinderungen relevant – erst recht vor dem Hintergrund der Rede von Björn Höcke im Sommer 2023, in welcher er sich in diskriminierender Art und Weise gegen eine Umsetzung der Inklusion ausgesprochen, diese als „Ideologieprojekt“ bezeichnet und diskreditiert hat (vgl.: Smit 2023, o. S.). Auf der anderen Seite mehren sich jedoch die Stimmen, welche den Spaltungsprozessen keine solche intensive Bedeutung beimessen. So behauptet Stefan Hradil in einem Beitrag der Deutschen Welle: „Ausdifferenzierung ist alternativlos in modernen Gesellschaften. Das hängt mit wachsenden Freiheitsgraden, Bildung, Migration und vielem mehr zusammen.“ (Eisele 2023, o. S.) Können somit die Bezeichnungen der „Spaltung“ und der „Ausdifferenzierung“ als zwei Pole einer sozialen Wirklichkeit bezeichnet werden? Oder sind die Konkretisierungsformen dieser Pole das eigentliche Thema und Problem? Eine Differenzierung verweist möglicherweise recht beschreibend auf eine sich mehr und mehr ausgestaltete und auszugestaltende Gesellschaft. Eine Spaltung hingegen problematisiert die Drift- und Entfremdungsbewegungen in eben dieser. Vielleicht ist aber auch die Differenzierung die (soziale und funktionale) Begründung für die Spaltungsphänomene – diese hätten somit, unter anderen historischen und institutionellen Vorzeichen und Ausprägungen, evtl. auch eine andere soziale Gestalt annehmen können. Weiterhin kann festgehalten werden, dass sich Spaltungsprozesse in einer Gesellschaft höchst unterschiedlich vollziehen können. Eisele hierzu ausführlich:
„Eine Gesellschaft kann also in einem Bereich gespaltener sein, in einem anderen dagegen weniger. Beim Messen von Spaltungstendenzen wird in der Forschung unter anderem zwischen ‚themenbezogener Polarisierung‘ und ‚gruppenbezogener Polarisierung‘ unterschieden. Während erstere Dissens bei konkreten politischen oder sozialen Fragen beschreibt, spricht man von einem hohen Grad ‚gruppenbezogener Polarisierung‘, wenn ganze Gruppen sich gegenseitig abwerten.“ (Eisele 2023, o.S.)
Um eine solche Abwertung handelt es sich, wenn Menschen mit Beeinträchtigung durch Menschen ohne (eine scheinbare oder offensichtliche) Beeinträchtigung abgewertet werden – und sich diese Abwertung dann möglicherweise auch auf diejenigen Personen aus dem nahen sozialen Umfeld (wie Angehörige) und Personen, die professionell mit Menschen mit Beeinträchtigungen tätig sind, überträgt. Um eine mögliche Hypothese hierzu zu formulieren. (Da an dieser Stelle nicht tiefgehender auf diese Thematik Bezug genommen werden kann findet der und die Lesende eine differenzierte Beschreibung, Analyse und Bewertung der Spaltungsphänomene in: Hradil et al 2022.)
Dass es somit Differenzierungs- und Spaltungsphänomene in den Gesellschaften zu geben scheint, ist somit unstrittig – nicht eindeutig sind die konkreten Ausprägungen und Relevanzen eben dieser. Es stellt sich somit und dennoch die Frage, welche möglichen Begründungen es für diese Phänomene geben kann. Im nächsten Abschnitt soll die Postmoderne als eine mögliche Begründung hierzu angeführt und dargelegt werden.
Die Postmoderne als Begründung gesellschaftlicher Spaltungsformen und mögliche Relevanzen für die Heilpädagogik
Die Grundzüge der Postmoderne entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen künstlerisch-ästhetischer, literarischer und politischer Prozesse. Diese, die Moderne ablösende Ausrichtung breitete sich dann auf die Philosophie und, last but not least, auf die gesamte Gesellschaft aus. Vor diesem Hintergrund wird sie zu einer Gesellschaft mit vielfältigen und vielgestaltigen Optionen sowie Möglichkeitsräumen, deren wichtigstes Kennzeichen die „Kontingenz“ ist: Diese lässt sich bestimmen als „[...] das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht [...] oder auch hätte anders sein können“ (Graevenitz/Marquard 1998, XI). Zur Grundlegung einer jedweden Wissenschaft und Profession, somit folglich auch der Heilpädagogik, in der Postmoderne gehört somit „[…] auch jenes Wissen, dass das Wissen eines eigenen Andersseinkönnens impliziert“ (ebd., XIV). Und da vor diesem pluralen Hintergrund nichts mehr eindeutig und sicher erscheint (und es auch nicht ist!), ist die Heilpädagogik dazu aufgefordert, Kooperations- und Kompromissbildungen einzugehen (vgl.: Vossenkuhl 2006, 422f.) – was nicht leicht ist, wie mit Bezug auf die Inklusion noch zu zeigen sein wird.
Weitere Kriterien der Postmoderne sind das „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard, 1999), die Absage an das Primat der Vernunft und der Zweckrationalität, also und infolgedessen die Hinwendung zur Emotionalität des Menschen und Menschlichen. Hierbei kommt es allerdings auch zum Verlust des autonomen Subjekts als rational handelndes Wesen. All das sind Hinweise auf eine mögliche Begründung der Spaltungstendenzen in der Gesellschaft vor dem Hintergrund einer (gelebten) Postmoderne. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat sich schon frühzeitig mit den Gestaltungsmechanismen der Postmoderne beschäftigt (vgl.: Dahrendorf 1979). Nach ihm stellt sich der Wandel von der Moderne zur Postmoderne als ein Wandel des Verhältnisses von Optionen (Wahlmöglichkeiten) und Ligaturen (Verpflichtungen/Abhängigkeiten/Bindungen) dar (vgl.: Dahrendorf 1979). Konkret beschreibt das von ihm benannte Faktum der „Lebenschancen“ das konkrete und sich in der jeweiligen (Teil-)Gesellschaft manifestierende Verhältnis zwischen Optionen und Ligaturen: Zu den Optionen gehören sowohl eine Angebotsseite der Sicherung von Auswahlmöglichkeiten – wozu Freiheitsrechte ebenso zählen wie vor allem durch den Markt eröffnete Konsumchancen – als auch eine Nachfrageseite der Gewährung von Anrechten und Zugangschancen, vor allem durch Staatsbürgerrechte (vgl.: Alber 2009, 48). Den Ort zur Konstituierung von Bindungen stellt hierbei die Bürgergesellschaft dar, in der sich Freiheit auf der einen und solidarische Verpflichtung und Bindung auf der anderen Seite zur Realisation von Lebenschancen bedingen (vgl.: Beck/Greving 2012).
Die Postmoderne lässt sich folglich durch die Veränderung des Verhältnisses von Optionen und Ligaturen kennzeichnen. – Wobei hierbei, folgt man Eisele und Hradil, bestimmte Themen und Gruppen polarisiert werden bzw. polarisieren und somit die Lebenschancen anderer Gruppen deutlich einengen oder gar negieren (für Menschen und Teilgruppen unterschiedlichen Aussehens, Religion, Geschlechtsidentität, Behinderung, sexueller Orientierung, aber auch unterschiedlicher Berufsgruppen). Was bedeutet das nun für die Heilpädagogik?
In einem ersten Schritt ist hierbei das Verständnis von sozialer Behinderung – als ein „Behindert-werden“ vor dem Hintergrund einer individuellen Beeinträchtigung durch Barrieren der Gesellschaft – zu nennen: Bedeutsam ist hierbei ein Verständnis von Behinderung als sozial ungleiche Zugangschance zu Bildung, Einkommen, Beschäftigung, Bürgerrechten (also: soziale Exklusions- und Deintegrationsrisiken wie soziale Ungleichheit und Abhängigkeit) auf gesellschaftlicher Ebene sowie als erhöhte Abhängigkeit von Hilfen und Dienstleistungen, als Einschränkung von Optionen, freien Wahlmöglichkeiten für die eigene Lebensführung, aber auch als Erfahrung von sozialer Distanz und Ausgrenzung, als mangelnde Einbindung in enge, stützende und vertrauensvolle Beziehungen auf individueller Ebene. Diese Exklusion wird unter anderem daran deutlich, dass Menschen, welche als behindert bezeichnet werden und unter rechtlicher Betreuung stehen, erst ab dem Jahr 2021 an Bundestagswahlen teilnehmen dürfen. Zudem sei an dieser Stelle auf die Misere verwiesen, dass Menschen, welche in Werkstätten tätig sind, keinerlei Möglichkeiten der Aus-, Fort- und Weiterbildung haben (vgl.: Hüppe 2021, 50/51).
Und im zweite Schritt: Diejenigen Gruppen, welche in der jeweiligen Gesellschaft an mehr Einfluss und Macht verfügen, werden hierbei festlegen – und realisieren dieses schon seit Langem –, ob und wie beeinträchtigte Menschen behindert werden und infolgedessen eher zu bestimmten (Teil-)Systemen der Gesellschaft gehören oder von diesen ausgeschlossen werden. Diese Art und Weise der Definition und Kategorisierung von Behinderung stellt schon eine erste Form der Spaltung zwischen Menschen ohne und mit Beeinträchtigungen dar. Obwohl Menschen mit Beeinträchtigung wesentlich toleranter betrachtet werden – so wurden bekanntlich gesetzliche Normen im Hinblick auf Selbstbestimmung/Teilhabe modifiziert (ICF, BTHG, SGB IX etc.) bzw. für alle Menschen volle Bürgerrechte und die Gleichstellung aller gesellschaftlichen Gruppen gefordert – stellen sich hierbei die Fragen nach der gerechten Verteilung von Lebenschancen, nach der Gewährung von Zugangschancen, die Bekämpfung sozialer Ungleichheit vor dem Hintergrund eines kontingenten, unsicher werdenden Lebensverlaufes. Eine Eindeutigkeit der Einbindung, der Inklusion aller Menschen, welche als behindert bezeichnet werden, scheint es somit nicht zu geben – auch das ist ein weiteres Kennzeichen der Wahrnehmung von Beeinträchtigung in der Postmoderne und eine Herausforderung, auf welche die Heilpädagogik reagieren muss. Eine Option stellt hierbei ein ganz bestimmtes Verhältnis von Inklusion bzw. die Frage dar, ob diese zur Überwindung dieser Spaltungstendenzen beitragen kann.
Inklusion als Überwindung der Spaltung?
Im Folgenden werde ich mich an der Analyse von Stefan Schache orientieren, so wie dieser vor Kurzem eine Haltung zur Deutung und Realisierung der Inklusion entwickelt hat. Er geht grundlegend davon aus, dass
„[...] für ein (postmodernes) Ausharren und Aushalten der Ambivalenzen ohne Versöhnung plädiert (wird), jedoch ohne einem Relativismus das Wort zu reden. Die eigene (inklusive) Position soll (ideologisch) engagiert vertreten werden, ohne andere Perspektiven verzerrend abzuwerten. Dies führt zur Öffnung dem Anderen gegenüber und damit zum Dialog.“ (Schache 2020, 34)
Da Inklusion als Phänomen, Denk- und Handlungsansatz sowie als (Menschen-)Recht eine Konkretion der Postmoderne ist, muss diese auch auf Basis postmoderner Ansprüche und Ausprägungen wahrgenommen und verstanden werden. Die hierdurch auch in der Heilpädagogik entstehenden Widersprüche (und höchste vielfältige und sich widersprechende Definitionen und Ausrichtungen von Inklusion) müssen benannt und transparent aufgewiesen werden (vgl. ebd. 37). Mehr noch: Es wird darum zu tun sein, diese Widersprüche und Gegensätzlichkeiten im Sinne der Postmoderne auszuhalten, oder:
„Die Gegensätze sollen nicht in einer höheren Einheit aufgehoben, sondern eben dialogisch eine Zusammenführung erleben. Zwei extreme, sich widersprechende Positionen sollen aufeinander bezogen werden, so dass jeweilige blinde Flecken deutlich werden.“ (Ebd., 39)
Schache bezieht sich in seiner Argumentation auf die Dialogische Theorie nach Zima (vgl.: Zima 2017), in und mit welcher er davon ausgeht, dass
„[...] es um das Zusammenführen von Extremen als Triebfeder der Erkenntnis (geht), welche durch eine Metatheorie der Verständigung angegangen wird. Zima sieht im dialogischen Zusammenführen von Extremen oder ambivalenten Positionen die Chance, die eigene Wirklichkeitskonstruktion im Lichte des Anderen zu betrachten, diese dadurch zu korrigieren, zu erweitern, zu verbessern, sogar zu ersetzen, um dem Gesamtgegenstand gerechter zu werden, so dass in diesem Fall sozialer und kultureller Problemfragen Antworten geboten werden können. Im Idealfall erkennt das Subjekt der jeweiligen (theoretischen) Position seine eigene Bedingtheit und reflektiert und relativiert sie durch die Aufnahme des Anderen in sein eigenes Denken. Gilt die Öffnung und Aufnahme des Anderen in das Eigene, erweiterten sich die jeweiligen Positionen. Das Ganze käme mehr in den Blick, die eigene Position müsste jedoch nicht aufgeben werden.“ (Schache 2020, 40/41)
In diesem längeren Zitat wird deutlich, dass es um einen möglichst herrschaftsfreien Diskurs zum Begriff und zum Faktum der Inklusion gehen muss – diese kann dann dazu beitragen soz. eine Reflexionsfolie für die Konkretisierung der Inklusion in der (gespaltenen) Gesellschaft zu bilden. Mehr noch: In dieser Art und Weise einer (dann auch wissenschaftlichen) Diskussion zur Inklusion kann diese als ein mögliches Modell dienlich sein, eine Haltung zu entwickeln, mit Spannungs- und Spaltungsphänomenen in der jeweiligen Gesellschaft umzugehen. Die von Schache vorgeschlagene Haltung
„[...] soll im Sinne der Dialogischen Theorie die Widersprüche und Ambivalenzen im Blick haben, ohne sie zu tilgen oder zu verharmlosen. Durch das Wahrnehmen anderer Perspektiven und Positionen wird das Ganze in seiner Aspekthaftigkeit und Bedingtheit sichtbar, die Extreme werden dabei abgeschritten. Die Bereitschaft, sich dem Anderen/Fremden zu öffnen und diesem eine Einladung zum Dialog auszusprechen, um seine eigene Begrenztheit sowie die des anderen wahrzunehmen, ist am ehesten mit einer Haltung zu verbinden; [...] und v. a. ist das Zeigen ideologischen Engagements, so wie es entfaltet wurde und in diesem Kontext verstanden wird, mit einer Haltung zu verbinden.“ (Schache 2020, 46)
Die vielfältigen und vielgestaltigen, postmodern begründeten Ausprägungen und Ausgestaltungen von Inklusion müssen somit ausgehalten und können m.E. einer Realisierungsoption zugeführt werden, welche sich als demokratische Orientierung und Konkretisierung versteht.
Demokratie und Demokratieversprechen im Kontext der Inklusion
Heilpädagogik stellt sich nach Gröschke (2002, 9) immer als Heilpädagogik „mit dem Gesicht zur Gesellschaft (dar)“. Insofern ist in der Analyse und Deutung der inklusiven Konkretisierungsoptionen in der Heilpädagogik immer auch die „politische Dimension von Inklusion“ (Geldner 2020, 13) zu bedenken und diese kann und muss als demokratische Ausrichtung konsequent begründet und umgesetzt werden.
Grundlegend muss hierzu festgehalten werden, dass
„[...] Inklusionspädagogiken [...] sich von Beginn an als demokratische Projekte (verstanden.) [...] Seitdem hat sich ‚Inklusion‘ zu einer der zentralen pädagogischen und (bildungs-)politischen Leitvorstellungen entwickelt.“ (Geldner 2020, 23)
Auch wenn hierbei abermals Schache gefolgt werden kann, dass diese Leitvorstellungen alles andere als kohärent beschrieben werden können. Es wird dennoch darum zu tun sein, die
„[...] Möglichkeit einer (Re-)Politisierung sozialer Verhältnisse [...] eng [...] an das demokratische Dispositiv sowie die hieraus erwachsende Möglichkeit der Etablierung eines Streits darum, was als allgemeine Angelegenheit gelten soll und wer an diesem Streit zu beteiligen wäre (zu knüpfen). Diese unterschiedlichen Perspektivierungen radikaldemokratischen Denkens schließen jeweils mit Überlegungen zu deren Bedeutung für eine Reflexion der politischen Dimension von ‚Inklusion‘.“ (Geldner 2020, 26)
Geldner schlägt hierzu vor, dass ein konsequent und radikaldemokratisches Verständnis von Inklusion kontinuierlich geführt werden muss. Eine (Re-)Politisierung von Inklusion sei eine
„dauerhafte Aufgabe“ (Geldner 2020, 26). Konsequent durchdacht bedeutet dieses auch, „[...] vehement für die Anerkennung der Kontingenz der eigenen Grundannahmen einzutreten und damit das Feld für Auseinandersetzungen um – nicht nur für – ‚Inklusion‘ zu öffnen.“ (Geldner 2020, 26)
In dieser Forderung werden folglich die unterschiedlichen Argumentationslinien dieses kurzen Beitrages zur Relevanz einer gespaltenen Gesellschaft in Bezug auf die Heilpädagogik zusammengeführt: Auf der Basis einer postmodernen Begründung und Ausgestaltung von Kontingenz kann es, in und mit Bezug auf die Spaltungsphänomene einer Gesellschaft, nie nur eine Form von Inklusion geben. Die Gesellschaft ist zwar dazu angetan, diese Spaltungsthemen zu analysieren und möglicherweise in bestimmter Art und Weise zu diskutieren – eine einheitliche und endgültige Bearbeitung wird jedoch nicht möglich, da eine conditio sine qua non dieses Diskursprozesses in einer aushaltenden und demokratischen Haltung aller beteiligten Diskurs- und Handlungspartner*innen besteht. Das (von Geldner 2020) geforderte und immer wieder einzufordernde Demokratieversprechen ist infolgedessen sowohl die Basis als auch das Ziel einer Inklusionsdebatte in der Heilpädagogik, welche mögliche Spaltungsthemen erkennt, analysiert und dialogisch-diskursiv kommuniziert, konturiert und konkretisiert.
Heinrich Greving, Prof. Dr., lehrt seit 1999 an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Münster Allgemeine und Spezielle Heilpädagogik, seit 2013 ist er an der Universität Hamburg Privatdozent und lehrt dort Behindertenpädagogik. Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkte: Theorien und Konzepte Heilpädagogischer Organisationen, Heil- und Behindertenpädagogische Systematik und Theoriebildung, Didaktik und Methodik der Heilpädagogik, Professionalisierung der Heil- und Behindertenpädagogik, Professionsethik, Lebenswelten von Menschen mit einer sog. Behinderung, Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung, Qualitätsmanagement im Sozial- und Gesundheitswesen.
Literatur
Achour, Sabine (2018). Die „gespaltene Gesellschaft“. Herausforderungen und Konsequenzen für die politische Bildung. Online verfügbar unter www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/266589/die-gespaltene-gesellschaft/ (abgerufen am 03.01.2024).
Alber, Jens (2009). Die Ligaturen der Gesellschaft. In memoriam Ralf Dahrendorf – ein persönlicher Rückblick. WZB-Mitteilungen 125, 46–49.
Beck, Iris/Greving, Heinrich (2012). Lebenswelt, Lebenslage. In: Iris Beck/Heinrich Greving (Hg.). Lebenslage und Lebensbewältigung. Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 15–59.
Dahrendorf, Ralf (1979). Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag.
Eisele, Ines (2023). Der Mythos der gespaltenen Gesellschaft. Online verfügbar unter www.dw.com/de/der-mythos-der-gespaltenen-gesellschaft/a-66825576 (abgerufen am 03.01.2024).
Geldner-Belli, Jens (2020). Inklusion, das Politische und die Gesellschaft. Zur Aktualisierung des demokratischen Versprechens in Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Bielefeld, transcript Verlag.
Graevenitz, Gerhart von/Marquard, Odo (1989). Vorwort. In: Gerhart von Graevenitz/Odo Marquard (Hg.). Kontingenz (S. XI-XVI). München: Wilhelm Fink Verlag.
Gröschke, Dieter (2002). Für eine Heilpädagogik mit dem Gesicht zur Gesellschaft. In: Heinrich Greving/Dieter Gröschke (Hg.). Das Sisyphos-Prinzip. Bad Heilbrunn, Klinkhardt Verlag, 9–32.
Hradil, Stefan/Enste, Dominik H./Eyerund, Theresa/Potthoff, Jennifer (2022). Gespaltene Gesellschaft? Hintergründe, Mythen und Fakten. München, Roman Herzog Institut e. V.
Hüppe, Hubert (2021). „Werkstätten“ im Konflikt mit dem Grundgesetz. In: Heinrich Greving/Ulrike Scheibner (Hg.). Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 36–64.
Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen. Wien, Passagen Verlag (orig.: La Condition postmoderne: Rapport sur le savoir. Paris 1979).
Schache, Stefan (2020). Eine inklusive Haltung: mit („ideologischem“) Engagement Widersprüchen begegnen. In: Heinrich Greving/Christina Reichenbach/Michael Wendler (Hg.). Inklusion in der Heilpädagogik: Diskurse, Leitideen, Handlungskonzepte. Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 34–48.
Smit, Rieke (2023). Inklusion. Höcke-Interview: So wird die kontroverse Aussage diskutiert. Online verfügbar unter www.morgenpost.de/politik/article239161367/hoecke-sommerinterview-inklusion-kritik-befuerworter.html (abgerufen am 03.01.2024).
Vossenkuhl, Wilhelm (2006). Die Möglichkeit des Guten; Ethik im 21. Jahrhundert. München, C.H. Beck Verlag.
Zick, Andreas (2016). Polarisierung und radikale Abwehr – Fragen an eine gespaltene Gesellschaft und Leitmotive politischer Bildung. In Andreas Zick/Beate Küpper/Daniela Krause (Hg.). Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Bonn: Dietz-Verlag, 203–218.
Zima, Peter V. (2017). Was ist Theorie. Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Tübingen, A. Francke Verlag, 2. Aufl.