Einleitung
Autismus-Spektrum-Störungen (kurz: ASS) werden im medizinischen Sprachgebrauch als tiefgreifende Entwicklungsstörungen begriffen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben ASS zunehmend mediale Aufmerksamkeit erlangt, mittels derer unterschiedliche, teils gegensätzliche Narrative zu ASS aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen vermittelt werden. Unter Narrativen verstehen wir sozial hergestellte Geschichten, die medial transportiert und weiterentwickelt werden, und damit einen Einfluss auf das gesellschaftliche Verständnis sozialer Phänomene haben. Im Alltagsverständnis lässt sich bereits erkennen, dass mit der ASS-Diagnose verbundene Merkmale kursieren und in der Interaktion reproduziert werden. Dieses Alltagswissen drückt sich im Sprachgebrauch häufig durch Aussagen wie „Ich bin ja auch ein bisschen autistisch“ aus. Derartiges Wissen erhalten Menschen nicht einfach ‚aus sich heraus‘, sondern vielmehr entwickeln sie dieses im Laufe ihres Lebens. Im Alltag werden wir unentwegt mit Informationen konfrontiert, wodurch sich unser Wissensbestand und damit auch unsere Perspektive auf Gesellschaft formt. Dabei ist relevant, dass insbesondere Institutionen eine besondere Wirkmacht durch ihre Reichweite haben, um Wissen zu vermitteln. In diesem Zuge fällt der Blick unweit auf die Massenmedien.
Mediale Darstellungen tragen dazu bei, ASS sichtbar zu machen und (Halb-)Wissen in den Alltag zu tragen. Im besten Fall führt dies zur Sensibilisierung, im schlechtesten Fall zur Verstärkung von Diskriminierung; die prekäre Situation Betroffener bliebe erhalten (Adlung 2018, 254). In Bezug auf Demokratieförderung birgt das Konzept des Ableismus Potenzial zum Weiterdenken. Ableismus umfasst Überzeugungen, Normalitätsvorstellungen und soziale Praktiken, die definieren, was als ‚ganzheitlicher‘ Mensch betrachtet wird (Campbell 2001, 44). Menschen, die den vorgegebenen Standard an Fähigkeiten und Fertigkeiten des alltäglichen Lebens erfüllen, gelten als ‚normal‘. Diese Normvorstellungen verstärken im gleichen Zuge das Bewusstsein für Abweichungen. Der Übergang vom Ableismus zum Disableismus ist somit fließend und markiert Diskriminierungsvorgänge gegen all jene, die weniger fähig sind als das Konstrukt des ‚Normalen‘ (Wolbring 2008). Menschen mit Behinderungen geraten in Stigmatisierungsprozesse, die von Medienrepräsentationen verstärkt werden. Ihnen werden scheinbar offensichtliche Merkmale zugeschrieben – diese reichen vom überzeichneten ‚being able‘ zum mitleiderweckenden ‚disable‘ –, anhand derer die Erzählhandlung und der anvisierte Unterhaltungswert vorangetrieben werden (Kashani und Nocella 2010).
In unserer Untersuchung haben wir uns die Darstellung von ASS in popkulturellen Produktionen angesehen. Fokussiert auf Film- und Buchcover, sind wir folgender Frage nachgegangen: Welche ASS-Narrative werden hergestellt? Dabei haben wir drei idealtypische Inszenierungen rekonstruiert: Leid-Narrativ, Erfolgs-Narrativ und Held*innen-Narrativ. Soziologisch arbeitend wird in der Analyse nicht über die Richtigkeit dieser Narrative entschieden, sondern untersucht, mittels welcher Mechanismen diese hergestellt und welche Inhalte damit transportiert werden. Wir zeigen auf, dass popkulturelle Produktionen spezifische Narrative zum Phänomen ASS hervorbringen.
Zum Gegenstand: Autismus-Spektrum-Störungen
Autismus-Spektrum-Störungen sind eine medizinische Diagnose, die an etwa 1 % der deutschen Bevölkerung vergeben wird (Paulus et al. 2016, 196). Gemäß dem aktuellen Diagnostikmanual ICD-11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) sind ASS „durch anhaltende Defizite in der Fähigkeit“ (WHO 2022, 6A02), soziale Interaktionen durchzuführen, gekennzeichnet. Zudem werden Betroffenen „eine Reihe von eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten“ (WHO 2022, 6A02) zugeschrieben. Um von Psychotherapeut*innen oder Psychiater*innen mit ASS diagnostiziert zu werden, müssen mehrere medizinische Tests durchlaufen werden. Die Kriterien aus dem Diagnostikmanual verkörpern den Wissensbestand, auf den sich das medizinische Feld vorläufig geeinigt hat. Aufgrund der starken Defizitorientierung innerhalb der medizinischen Beschreibung wird erst außerhalb dieser eine positive Auslegung des Phänomens ASS möglich (Adlung 2018, 246).
Diagnosedaten zu ASS zeigen eine Schwerpunktsetzung bezogen auf das männliche Geschlecht und ein junges Alter, die sich auch in den medialen Repräsentationen erkennen lässt: ASS kann bereits im Alter von 18 oder 24 Monaten diagnostiziert werden und weist einen medizinischen Bias auf, der dazu neigt, häufiger männlich gelesene Personen zu diagnostizieren (Zeidan et al. 2022, 784). Diagnosen bei weiblich gelesenen Personen liegen weniger vor (Zeidan et al. 2022, 786).
Zur Theorie: Medientheoretischer Sozialkonstruktivismus
Wissen ist ein gesellschaftlich hervorgebrachtes Produkt und wird von Generation zu Generation weitergegeben, verändert, erneuert oder für ungültig erklärt. Auf der einen Seite wirkt die Gesellschaft als eine Art Wissensmaschinerie auf das Handeln des einzelnen Menschen ein. Auf der anderen Seite nimmt jede*r Einzelne an der Entwicklung gesellschaftlichen Wissens teil. Das, was in einer gegebenen Kultur und zu einer gegebenen Epoche als Wissen gilt, ‚entscheiden‘ alle Gesellschaftsmitglieder tagtäglich durch ihr soziales Handeln. Diese Mitwirkung am Wissensvorrat stiftet soziale Wirklichkeitsvorstellungen. Die hier eingenommene theoretische Perspektive von Berger und Luckmann (1969) wird als sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie bezeichnet. Diesem Verständnis folgend durchzieht sozial hervorgebrachtes Wissen alle gesellschaftlichen Bereiche. Eine der wohl definitionsmächtigsten Institutionen der Wissensverbreitung sind die Massenmedien (Altheide 1976). Massenmedien bieten auf unterschiedlichsten Kanälen (Social Media, TV etc.) „Wirklichkeitsentwürfe“ (Weischenberg 1993, 128) an, die von den Rezipient*innen ausgelegt, verändert oder gar abgelehnt werden. Der Blick auf die medienbasierte Konstruktion sozialer Wirklichkeit stellt die theoretische Ausgangslage in diesem Beitrag dar.
Zur Methode: Bildanalyse
Cover verstehen wir mit Eisewicht (2015) „als vordergründige Repräsentation von zentralen und jeweils zeitaktuellen Themen“ (11; Herv. v. Autor*innen). Sie transportieren medial kommuniziertes alltägliches Wissen über einen bestimmten Gegenstand. Beim Anblick technisch erzeugter Bilder gehen Rezipient*innen immer mit dem, was sie visuell wahrnehmen, auf irgendeine Weise um. In der Regel werden die vermittelten Informationen in ihrer Komplexität reduziert (Eckardt 2018, 646). Denn der alltagsweltliche flüchtige Blick ist pragmatisch orientiert; er ‚filtert‘ Gesehenes hinsichtlich typischer Bedeutungen. Dies wird auch in der Coverproduktion genutzt, wenn im Designprozess ein besonderer Fokus auf die Blickfänge gelegt wird. Die durch Bilder hervorgebrachten Wirklichkeiten sind begrenzt auf ausgewählte Inhalte, die wiederum kontextualisiert werden müssen. Bilder bergen eine gewisse Wirkmacht, indem sie Emotionen, Einstellungen oder gar soziales Handeln beeinflussen können (Kanter 2013). Als Teil kommunikativer Medien fungieren sie als Mitgestalter gesellschaftlicher Wirklichkeit (Kanter 2013, 107).
Um diese Herstellungsprozesse anhand ausgewählter Film- und Buchcover im Bereich ASS zu untersuchen, wird mit der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2007) gearbeitet. Im Kern dieser Bildanalyse geht es darum, den Interpretationsschwerpunkt vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘ umzulenken: „Es geht um den Wechsel von der Frage, was kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene oder Tatsachen sind, zur Frage danach, wie diese hergestellt werden“ (Bohnsack 2007, 69). Daher sind die Forschenden permanent dazu angehalten, „Wie-Fragen“ (Michel 2018, 77) an das Material zu stellen. Schlussendlich hat die dokumentarische Methode das Ziel, in Form von „Typen von Akteuren“ (Bohnsack 2007, 70), generelle Aussagen über Wirklichkeitskonstruktionen zu formulieren. Für die Coveranalyse bedeutet dies, dass die Cover als Ganzes betrachtet, d. h. nicht nur Bild-, sondern auch Textinterpretationen durchgeführt werden. Zunächst wurden die ausgewählten Cover alleinstehend analysiert, um anschließend den Plot der dargestellten Geschichte miteinzubeziehen. Mithilfe des permanenten Vergleichs ähnlicher Bilder konnte schließlich eine Auswahl an Bildtypiken konstruiert werden. Die Auswahl der Cover erfolgte auf Basis einer breit angelegten Internetrecherche. In den gängigen Suchmaschinen wurden die Schlagwörter „Autismus“ und „Filme/Bücher mit Autismus“ verwendet. Zusätzlich halfen elektronische Enzyklopädien bei der Suche nach eher unbekannten Produktionen. Nicht zuletzt gelangten einige Cover in unseren Korpus aufgrund von unmittelbaren Empfehlungen von Feldteilnehmer*innen, denen wir im Laufe unserer Feldforschung begegnet sind.
Zentrale Ergebnisse
Popkulturelle Produktionen zu ASS in Form von Filmen und Büchern liegen in großer Fülle vor. Bei den vorliegenden Ergebnissen handelt es sich um eine Auslese, denn bei weit mehr als 500 Buch- und Filmcovern kann kein Anspruch auf eine vollständige qualitative Bildanalyse erhoben werden. Die Hauptergebnisse unserer Analyse setzen sich aus drei Idealtypen – Leid, Erfolgs- und Held*innen-Narrativ – zusammen.
Leid-Narrativ
Das Leid-Narrativ weist typische Merkmale auf, die sich in unterschiedlich ausgeprägten Darstellungsweisen wiederfinden. So lassen sich einige Unterkategorien feststellen, die in Abbildung 1 gruppiert sind. Allen gemein ist die Herstellung einer speziellen Stimmung von Melancholie, Trauer, Frust, Bedrückung, Beengung und Besorgnis. In der Regel werden die Protagonist*innen mit von der Kamera abgewendeten Blickrichtungen gezeigt. Die gesenkten Blicke verweisen auf Betrübnis, was nicht nur durch die Tatsache, dass die Protagonist*innen meist allein abgebildet werden, gestärkt wird. Sofern auch andere Personen abgebildet sind, weisen auch diese leiderfüllte Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen auf, wie etwa bei der Familien-Melancholie. Auch die häufigen Nahaufnahmen der Gesichter verstärken die Wirkung von Mimik und Gestik, da dies eine Identifizierung der dargestellten Emotionen ermöglicht. Es wird nicht gelächelt, die Augenlider sind gesenkt, die Mundwinkel in neutraler Position. Gepaart mit verzweifelter Gestik (z. B. den Kopf in den Händen haltend) oder nicht-selbstbewussten Körperhaltungen (z. B. sitzend-eingeknickt, Ellenbogen auf Knien abstützend, Kopf an Wänden anlehnend) entsteht jene Stimmung von Beklemmung. Diese Stimmung wird auch in Darstellungen vermittelt, bei denen das Gesicht der Protagonist*innen verborgen bleibt. Zu sehen sind dann lediglich Körperumrisse, -ausschnitte oder -rückseiten. Die dunkle, farblose Kulisse stützt die traurige Atmosphäre insgesamt.
Abbildung 1: Leid-Narrativ (eigene wissenschaftliche Darstellung)1
Neben den dargestellten Körpern verweisen auch bestimmte Sinnbilder (Gefangen-Sein) auf das Leid-Narrativ von Personen mit ASS. Zu nennen ist hier die Fenster-, Glaswand- oder Gefängnismetapher. Die Protagonist*innen blicken in den zuvor genannten Körperhaltungen durch dunkle Fenster oder trübe Milchglasscheiben. Angedeutet wird hiermit die in ASS-Kontexten häufig diskutierte soziale Isolation, die mit den kommunikativen Defiziten einhergehe. Betroffenen sei lediglich ein vager Blick zur ‚anderen Welt‘ möglich. Gemeint ist die Welt des Alltags, in der Normalitätsvorstellungen des gemeinsamen Miteinanders herrschen. Der Blick in diese unnahbare Ferne suggeriert, dass eigentlich ein Zugang zu dieser Welt möglich wäre, wenn diese gläserne Barriere überwunden werden könnte. Die dunkle, farblose Darstellung einzelner Menschen weist darauf hin, dass aufgrund der ‚autistischen‘ Zwänge ein Leben in ewiger Isolation geführt werden muss, ohne auf fremde Hilfe hoffen zu können. Betroffene werden dargestellt als in singulärer Melancholie schwelgend. Die Rezipient*innen sollen betroffen gemacht werden, Mitleid empfinden, aber auch ein Verständnis für das Leid entwickeln. Das Leid-Narrativ setzt zusammenfassend den Fokus auf die soziale Isolation, die in den Erzählungen maßgeblich auf ASS zurückgeführt wird. Nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch deren nahes Umfeld geraten in soziale Exklusionsprozesse. Eine hoffnungsvolle Entwicklung, aus diesem Leid herauszufinden, wird in der Regel nicht dargestellt.
Erfolgs-Narrativ
Häufig dient das Leid-Narrativ als Ausgangspunkt einer Erfolgsgeschichte. In den untersuchten Buch- und Filmcovern des Erfolgs-Narratives werden vermehrt Begriffe wie „wunderbar“/„wundervoll“, „inspirierend“, „bemerkenswert“, „außergewöhnlich“ und „bewegend“ verwendet. Diese heben das Potenzial des Mediums hervor, positive Emotionen bei den Rezipient*innen auszulösen, in der Hoffnung, eine einzigartige Erzählung zu erwarten.
Abbildung 2: Erfolgs-Narrativ (eigene wissenschaftliche Darstellung)
In einigen Erfolgsgeschichten (Mensch-Tier-Freundschaft) werden gedeckte Farben genutzt, um eine ruhige Atmosphäre zu schaffen – entweder in Natursettings oder Innenräumen wie bspw. Wohnzimmern. Die Darstellungen zeigen Kinder – manchmal mit einer erwachsenen Person – in ruhigen Posen, stehend, sitzend oder liegend. Sie blicken mal in die Kamera, mal zur Seite oder in Richtung des anwesenden Tieres. Der Gesichtsausdruck ist freundlich und entspannt. Auch die Präsenz von Tieren wirkt beruhigend. Es entsteht ein vertrautes Miteinander durch die Zugewandtheit und körperliche Nähe zwischen Mensch und Tier. Dies wird durch die Titel verstärkt, in denen explizit Begriffe wie „Freund“, „Freundschaft“ oder Wortkombinationen wie „Pferdejunge“ verwendet werden. Das Erfolgsmoment wird durch die kommunikative Öffnung der Person mit ASS durch das Tier verkörpert, wodurch das Narrativ der vorangegangenen sozialen Isolation reproduziert wird.
Einige Cover (selbstbewusste Ausstrahlung) haben gemein, dass eine einzelne Person im Fokus steht, porträtiert von Kopf bis maximal zur Hüfte. Durch die zentralisierte Position, bunte Farben, zugewandte Körperhaltung und zufriedene, gelassene Mimik – mit Blick in die Kamera oder zur Seite – wird eine selbstbewusste Ausstrahlung vermittelt. Ein häufiges Merkmal ist die explizite Verwendung des Begriffs „Autismus“, oft als informativer Untertitel, kombiniert mit positiven Begriffen wie „außergewöhnlich“. Die zugrunde liegende Nachricht lautet: ASS gilt es nicht zu verstecken. Die Person erweckt den Eindruck einer stolzen Selbstreferenz („Ich habe ASS“), wodurch die Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit der Geschichte gestärkt wird. Auch hier wird die Thematik eines Sprachrohrs getragen, indem die Charaktere ihren Interessen folgen (z. B. mittels Zeichentrickfiguren) und dadurch ihren ‚Platz im Leben‘ finden und markieren. In der Kategorie Sportsgeist werden Einzelpersonen oder Gruppen in einem sportlichen Kontext präsentiert. Die passende Kleidung zur jeweiligen Sportart und die Umgebung, die teilweise auf den Sportkontext hinweist (z. B. Baseball-Kappe auf einer Wiese, Badehose in einem gefliesten Raum, nummeriertes Läufershirt in einer Innenstadt), vermitteln den Eindruck körperlicher Kompetenz. Die Personen werden entweder in triumphaler Pose (z. B. beim Laufen mit einem erhobenen Arm oder mit einem glücklichen Blick in den Himmel) oder in der Vorbereitung auf ihre sportliche Leistung (z. B. das Aufsetzen der Schwimmbrille) gezeigt. Teils werden auch zwei Situationen verbildlicht: im sportlichen Kontext und in der Darstellung einer Interaktion. Auf dem Filmcover „Marathon“ drückt eine Person mit den Zeigefingern die Mundwinkel einer anderen Person hoch, sodass diese glücklich erscheint. Dieser unterstützende Eingriff in die Gesichtsmimik kann auf das häufig zugeschriebene ‚Unvermögen‘ in der Gefühlskommunikation bei ASS hindeuten.
Oft wird die Authentizität der Geschichte betont, um das Erfolgsmoment besonders emotional wirken zu lassen. Jedoch neigt die Betonung des gelungenen sozialen Lebens dazu, weiterhin bestehende Herausforderungen im Leben der stigmatisierten Personen zu vernachlässigen und romantisiert darzustellen. Das Erfolgs-Narrativ funktioniert lediglich auf der Grundlage des bereits bestehenden Narratives, Personen mit ASS seien sozial verschlossen, und eine Überwindung dessen wird sodann als ‚erfolgreich‘ markiert. Anstelle einer Ablösung des Leid-Narratives durch das Erfolgs-Narrativ findet tendenziell eine zusätzliche Betonung dessen statt.
Held*innen-Narrativ
Wenn Erfolgsgeschichten zu realitätsfernen Romantisierungen oder sogar übermenschlichen Handlungsfolgen übergehen, kann von einem Held*innen-Narrativ gesprochen werden. In der Regel haben die Protagonist*innen ausgeprägte sprachliche und kognitive Fähigkeiten und befinden sich ‚noch so eben‘ am Rande der Sozialität. In der medizinischen Fachsprache würde hier von ASS ohne Störung der funktionellen Sprache die Rede sein. Betroffene gehen obsessiven Spezialinteressen nach und zeigen repetitive Verhaltensweisen. Dies wird in zugespitzter Form auf einer Vielzahl von Covern deutlich. Grob lassen sich hier die Unterkategorien Alltagsheld*innen und Superheld*innen unterscheiden. Damit eine erzählenswerte Geschichte vorliegt, werden Charaktere geschaffen, die einerseits menschliche und andererseits übermenschliche Eigenschaften aufweisen. Diese sind unmittelbar an ASS geknüpft und gelten als besonders herausragend.
Abbildung 3: Held*innen-Narrativ (eigene wissenschaftliche Darstellung)
Bei den Alltagsheld*innen zeigt sich dies in einer enormen Genauigkeit in der Ausführung von Berufen. So befindet sich unter einem typischen Büroanzug ein Heldenkostüm, das an die Heldenfigur Superman erinnert. Inszeniert wird die Sorgfalt des genialen Chirurgen („The Good Doctor“), der seine Operationsinstrumente penibel auf einem OP-Tisch ordnet, über den er erhabenen Blickes hinwegschaut und von einer OP-Lampe ‚erleuchtet‘ wird. Die ebenfalls auf Genauigkeit bedachte Anwältin sitzt mit ordentlich zugeknöpftem Mantel auf einem Bürotisch, in einem mit fein säuberlich aufgestellten Aktenordnern ausgestatteten Büro. Dies scheint auf den ersten Blick weniger bedeutsam. Auf den zweiten Blick fällt hingegen auf, dass es sich hier um eine „außergewöhnliche“ Erzählung handelt, die mit den unsichtbaren besonderen Fähigkeiten einer ‚Ausnahmeanwältin‘ zu tun haben. Die Alltagsheld*innen treten samt ihrer Eigenschaften ins Zentrum der Erzählung und wirken dadurch selbstbestimmt. Sie erscheinen als vollständig entscheidungsmächtig, was mitunter durch ihre aufrechte Körperhaltung und einen seriösen Blick in die Kamera suggeriert wird.
Diese selbstbewusste Darstellung wird in der Kategorie Superheld*innen gesteigert – sei es ganz offensichtlich in Superheldenkostümen auftretend oder bewaffnet. Die Protagonist*innen sind Kraft ihrer ‚autistischen‘ Fähigkeiten in der Lage, bestimmte Handlungsprobleme eigeninitiativ zu bewältigen. Die Cover sprühen beinahe vor Selbstbewusstsein, das von den Protagonist*innen ausgeht: Sie sind kampfbereit und halten Schusswaffen oder Kampfstöcke in den Händen. Im Gegensatz zu den Alltagsheld*innen wird weniger auf eine übertriebene Sorgfalt oder Genauigkeit in einem bestimmten Beruf verwiesen, sondern vielmehr auf körperlich-mentale Stärke. Diese Stärke hängt unmittelbar – wenn wir den Plot der Cover hinzuziehen – mit den ‚autistischen‘ Merkmalen der dargestellten Figuren zusammen. Insgesamt werden ASS hier romantisiert, indem ‚unbrauchbare‘ Eigenschaften nicht Teil des Narratives werden. Teil des Narratives werden vielmehr überzeichnete ‚autistische‘ Fähigkeiten, die in ganz normale Alltagssituationen integriert und somit als ‚spannend-unterhaltsame‘ Geschichten verkauft werden.
Fazit
Untersuchungen zur medialen Repräsentation von ASS zeigen, dass Inhalte von Büchern, Filmen, Serien etc. häufig negativ konnotierte Narrative wiederholen (Adlung 2018; Brooks 2018; Mittmann et al. 2023; Jones 2022). Mit unserer Bildanalyse konnten wir einige Forschungsergebnisse bestätigen und erweitern. In popkulturellen Produktionen werden ASS oft als dramaturgisches Element genutzt, um den Leidensweg Angehöriger zu betonen oder bestehende Stereotype aufrechtzuerhalten (Jones 2022). Dabei dienen nicht selten humorvolle Anspielungen auf die Schwächen der betroffenen Menschen als Verstärker von Stereotypen (Goffman 1963, 108). Die ‚autistischen‘ Charakterzüge werden meist haargenau an den medizinischen Kriterien orientiert (Mittmann et al. 2023). Indem dieselben Charakterzüge jedoch stetig wiederholt werden, findet das vielfältige Spektrum selten Ausdruck (Brooks 2018, 182f.). ASS werden in popkulturellen Produktionen häufig eindimensional dargestellt und Aspekte der Intersektionalität übergangen. POC, queere, alte usw., d. h. mehrfachdiskriminierte Personen mit ASS tauchen in diesen Erzählungen meist nicht auf, sie sind oft aus den Geschichten ‚entfernt‘ (Brooks 2018, 182f.). Häufig gerät damit in Vergessenheit, dass ASS nicht nur biologischer, sondern auch sozialer ‚Natur‘ sind (Adlung 2018, 246).
Indem beim Leid-Narrativ direkt an das Vorkommen von ASS geknüpft wird, wird ein mitleiderweckendes ‚disable‘ produziert. Wenn dieses Leid sich erst durch einen Wendepunkt in eine Erfolgsgeschichte wandelt, indem die einst stigmatisierte Person schließlich ihr Leben nach konventionellen Normen führt (Goffman 1963, 111), wird die Anpassung an bestehende Normen als Notwendigkeit dargestellt. Damit werden ableistische Überzeugungen gefördert. In der fiktiven Überzeichnung ‚autistisch‘ geltender Fähigkeiten wird das Narrativ ebenso auf einer Normabweichung aufgebaut, jedoch positiv konnotiert. Die mediale Positionierung von Personen mit ASS an den Rand der Sozialität und die mediale Betonung von Abweichungen gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen stützen sich auf bestehende Stigmatisierungsprozesse und beeinflussen mittels negativer Konnotation die Rezipient*innenwahrnehmung.
In Deutschland hat etwa 1 % der Bevölkerung eine ASS-Diagnose. Das bedeutet, dass viele Menschen möglicherweise im Alltag keinen direkten Kontakt mit Betroffenen haben. Infolgedessen sind Medien die Hauptquelle für den Wissenserwerb über ASS. Indem die Charaktere stereotypisch dargestellt werden, wird das Verständnis von ASS im Alltag auf diese wenigen Eigenschaften beschränkt. Dabei kann die mediale Sichtbarkeit vielfältiger Merkmale positive Effekte hervorbringen. Personen können sich mit dem Dargestellten identifizieren und ein tiefergehendes Verständnis erlangen. Eine zunehmende Vielfalt in der popkulturellen Darstellung authentischer Charaktere und damit der Herstellung heterogener ASS-Narrative ist – über unsere Analyse hinaus – in zukünftigen Medienproduktionen wünschenswert.
Pao Nowodworski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dortmund am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie (Prof. Dr. Angelika Poferl).
Marie Marleen Heppner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem DFG geförderten Forschungsprojekt „Synthetische Planung – Digitale Mediatisierung von kollaborativer Kommunikationsarbeit und Veränderungen von Planungswissen“ (Dr. Ajit Singh) an der Universität Bielefeld.
1 Bei den Abbildungen 1 bis 3 handelt es sich um wissenschaftlich erstellte Bildcollagen, die nicht der Illustration, sondern allein der soziologischen Analyse dienen. Die Bildquellen sind am Ende des vorliegenden Beitrages im Bildverzeichnis aufgeführt.
Literaturverzeichnis
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Bildverzeichnis
Abbildung 1: Leid-Narrativ (von oben links nach rechts folgend)
Sam Fleischner (Regie) und Rose Lichter-Marck (Drehbuch) (2013). Stand Clear of the Closing Doors. USA, Oscilloscope Pictures.
Geradine Wurzburg (Regie) und Sue Rubin (Drehbuch) (2004). Autism is a World. USA, CNN.
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Stephanie Meer-Walter (Autorin) (2020). Den inneren Suizid besiegen. Mein Leben trotz, gegen, mit Asperger-Autismus. Gera, Verlag Daniel Funk.
Stephen Daldry (Regie) und Eric Roth (Drehbuch) (2011). Extrem laut & unglaublich nah. USA, Warner Bros. Pictures.
Lauren Thierry (Regie) (2006). Autism Every Day. USA, Autism speaks.
Abbildung 2: Erfolgs-Narrativ (von oben links nach rechts folgend)
Nuala Gardner (Autorin) (2008). A Friend Like Henry. The Remarkable True Story of an Autistic Boy and the Dog That Unlocked His World. Illinois, Sourcebooks.
Louisa Booth (Autorin) (2014). Und dann kam Billy. Die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft. München, Knaur.
Roger Ross Williams (Regie und Drehbuch) und David Teague (Drehbuch) (2016). Life, Animated. USA, Motto Pictures.
Dave Moody (Regie) (2013). Season of Miracles. USA, Elevating Entertainment Motion Pictures.
Lara Stolman (Regie) (2016). Swim Team. USA, Woodland Park Productions.
Rupert Isaacson (Autor) (2009). Der Pferdejunge. Die Heilung meines Sohnes. Hamburg, Krüger Verlag.
Kristine Barnett (Autorin) (2014). The Spark. A Mother’s Story of Nurturing, Genius, and Autism. New York, Random House Publishing Group.
Mick Jackson (Regie), Christopher Monger und William Merritt Johnson (Drehbuch) (2010). Temple Grandin. USA, Ruby Films.
Chung Yoon-chul (Regie und Drehbuch), Yun Jin-ho und Song Yejin (Drehbuch) (2005). Marathon. Südkorea, Ssineraintu Cineline.
Abbildung 3: Held*innen-Narrativ (von oben links nach rechts folgend)
Rudy Simone (Autorin) (2010). Asperger’s on the Job. Arlington, Future Horizons.
David Shore (Regie) (seit 2017). The Good Doctor (TV-Serie). USA, ABC.
Birger Larsen (Regie) und Ake Sandgren (Drehbuch) (2009). SuperBrother. Dänemark, Nordisk Film.
Yoo In-shik (Regie) und Moon Ji-won (Drehbuch) (2022). Extraordinary Attorney Woo (Serie). Südkorea, AStory.
Prachya Pinkaew (Regie) und Chookiat Sakveerakul (Drehbuch) (2008). Chocolate. Thailand, Baa-ram-ewe.
Gavin O’Connor (Regie) und Bill Dubuque (Drehbuch) (2016). The Accountant. USA, Electric City Entertainment.