Projektvorstellung: #AbleismusTötet von AbilityWatch e. V.

#AbleismusTötet ist ein Rechercheprojekt der Behindertenrechtsorganisation AbilityWatch e. V., das Gewalt an Menschen mit Behinderungen in stationären Wohneinrichtungen in Deutschland dokumentiert, Hilfsangebote für betroffene behinderte Menschen recherchiert und Forderungen an die Politik stellt, die behinderte Menschen vor Gewalt schützen muss. Das Projekt entstand als Reaktion auf die Morde im Oberlinhaus, bei denen am 21. April 2021 eine Mitarbeiterin vier Menschen mit Behinderungen tötete und eine weitere Person schwer verletzte. Obwohl Menschen mit Behinderungen um ein Vielfaches häufiger von Gewalt betroffen sind (Glammeier 2019) – es wird von einem zweieinhalb- (Morgan o. J.) bis vierfachen (Schröttle et al. 2021) Risiko gesprochen –, wird dies immer wieder relativiert und die Medien sprechen von „Einzelfällen“.

Mit #AbleismusTötet hat AbilityWatch e. V. erstmals gezeigt, wie alltäglich Gewalt für Menschen mit Behinderungen ist und welche Rolle dabei geschlossene Systeme wie stationäre Wohneinrichtungen spielen. Ein multidisziplinäres Team von Journalist*innen und Aktivist*innen recherchiert seit Juli 2021 Fälle von Gewalt an behinderten Menschen in stationären Wohneinrichtungen in Deutschland, die in den letzten zehn Jahren passiert sind und die öffentlich bekannt wurden. #AbleismusTötet verzeichnet 43 Fälle in 40 deutschen Einrichtungen (Stand August 2023). Dabei waren bei über 60 % Mitarbeitende verantwortlich. 25 Bewohner*innen starben in Folge von Gewalt und 4 wurden schwanger. Bei fast der Hälfte handelte es sich um sexualisierte Gewalt. Die Betroffenen waren dabei häufig Frauen mit Lernschwierigkeiten. Auch das deckt sich mit Statistiken, die davon sprechen, dass z. B. 40 % bis 70 % der Frauen mit Lernschwierigkeiten bereits vor der Volljährigkeit sexualisierte Gewalt erfahren (United Nations 2013). Schockiert hat #AbleismusTötet feststellen müssen, dass es insbesondere für diese vulnerabelste Gruppe keine Schutzmechanismen oder Hilfsangebote gibt. Nur wenige Stellen, die sich mit dem Thema Gewalt beschäftigen, fühlen sich zuständig für behinderte Menschen und noch weniger für Menschen mit Lernschwierigkeiten und erhöhtem Unterstützungsbedarf. Da stationäre Einrichtungen ein besonders großer Risikofaktor für Gewalt sind – ein selbstbestimmtes Leben ist aufgrund der fehlenden Privatsphäre und Selbstbestimmung und zugleich den Machtgefällen und Abhängigkeitsverhältnissen dort nicht möglich (Schröttle et al. 2012) – und gleichzeitig kaum niedrigschwellige und barrierearme Hilfsangebote für die dort lebenden Menschen existieren, muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer in solchen Einrichtungen hoch ist.

Seit dem Launch erhielt #AbleismusTötet 23 (anonyme) Zuschriften von Menschen, die von Gewalt in Einrichtungen berichteten. 11 davon waren Mitarbeiter*innen, die Gewalt an Bewohner*innen beobachtet hatten. Doch niemand dieser Menschen hat sich getraut, öffentlich über die Gewalt zu sprechen, aus Angst vor Konsequenzen. Viele erzählten, dass sie bereits intern auf die Gewalt hingewiesen hätten und ihnen mit rechtlichen Folgen gedroht wurde. Aufgrund der Ergebnisse all dieser Recherchen kommt #AbleismusTötet zu dem Schluss, dass behinderte Menschen in stationären Einrichtungen nicht gewaltfrei leben können. Das Projekt fordert daher: Stationäre Einrichtungen müssen langfristig abgeschafft werden. Sie sind nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention, in der eine Deinstitutionalisierung gefordert wird (Vereinte Nationen 2023). Doch es leben weiterhin 200.000 behinderte Menschen in stationären Wohneinrichtungen (Dusel und Schlegel 2022).

 


Karina Sturm ist Journalistin und arbeitet seit mehreren Jahren mit AbilityWatch e. V. unter anderem an #AbleismusTötet. Mehr Information: www.karina-sturm.com.

 


 

 

Literatur

Dusel, Jürgen/Schlegel, Britta (2022). Schutz vor Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen – Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis. Online verfügbar unter www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/PublikationenErklaerungen/20220516_Gewaltschutz.pdf (abgerufen am 27.02.2023).


Glammeier, Sandra (2019). Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen. Public Health Forum 27(1), 84–86.

Morgan, Cameron (o. J.). The Unacknowledged Crisis of Violence Against Disabled People. Online verfügbar unter cdrnys.org/blog/advocacy/the-unacknowledged-crisis-of-violence-against-disabled-people/ (abgerufen am 03.09.2022).


Schröttle, Monika/Hornberg, Claudia/Glammeier, Sandra/Sellach, Brigitte/Kavemann, Barbara/Puhe, Henry/Zinsmeister, Julia (2012). Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland-Kurzfassung. Online verfügbar unter www.bmfsfj.de/resource/blob/94204/3bf4ebb02f108a31d5906d75dd9af8cf/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-behinderungen-kurzfassung-data.pdf (abgerufen am 26.04.2024).


Schröttle, Monika/Puchert, Ralf/Arnis, Maria/Sarkissian, Abdel Hafid/Lehmann, Clara/Zinsmeister, Julia/Paust, Ivana/Pölzer, Lena (2021). Gewaltschutzstrukturen für Menschen mit Behinderungen-Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Online verfügbar unter www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb-584-gewaltschutzstrukturen-fuer-menschen-mit-behinderungen.html (abgerufen am 26.04.2024)


United Nations (2013). Fact Sheet: Violence against Women and Girls with Disabilities. Online verfügbar unter www.un.org/womenwatch/daw/csw/csw57/side_events/Fact%20sheet%20%20VAWG%20with%20disabilities%20FINAL%20.pdf (abgerufen am: 03.09.2022).


Vereinte Nationen (2023). Leitlinien zur Deinstitutionalisierung. Deutsches Institut für Menschenrechte. Online verfügbar unter www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/leitlinien-zur-deinstitutionalisierung-auch-in-notfaellen (abgerufen am 24.08.2023).