Das defizitäre statische Terrorismusverständnis
Am 2. Juni 2019 wurde der hessische Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) in seinem Haus ermordet. Die Spur des dringend Tatverdächtigen Stephan E. und seines Umfeldes reichen in das subkulturelle Milieu des militanten Neonazismus im verbotenen – aber weiter aktiven – Blood-and-Honour-Netzwerk und dessen besonders terroraffinen Arm Combat 18. Nach dem Mord an Lübcke twitterte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier: „Das haben wir seit den NSU-Morden nicht mehr für möglich gehalten.“ Dabei warnte selbst das Bundeskriminalamt in den letzten Jahren vor dem rechtsterroristischen Gefahrenpotenzial. Und seit dem öffentlichen Bekanntwerden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) 2011 haben sich Ermittlungen wegen rechtsextremen und rechtsterroristischen Gewalttaten und Anschlagsplänen in Deutschland massiv gehäuft: Beispielhaft dafür stehen die Oldschool Society, die Bürgerwehr Freital, der Angriff auf Henriette Reker, der Pegida-Bombenbauer Nino K., der Nagelbombenanschlag in Hamburg-Veddel, der Bundeswehrsoldat Franco Albrecht und das OEZ-Attentat in München im Juni 2016 mit 9 Todesopfern (Quent 2017, 2019b). Auch die Anschläge auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch mit 51 Todesopfern (März 2019), auf die Synagoge im amerikanischen Pittsburg mit 11 Todesopfern (Oktober 2018) sowie in El Paso mit 22 Todesopfern (August 2019) müssen im Kontext eines international ideologisch und über das Internet vernetzten Rechtsterrorismus verstanden werden, der sich zunehmend aus politischen Konzepten speist, die von der sogenannten Neuen Rechten verbreitet werden und die über die AfD bis in die deutschen Parlamente reichen: Zu nennen sind hier die Verschwörungslegende vom „großen Austausch“ bzw. „Bevölkerungsaustausch“ durch Migration sowie das angebliche Ziel einer konstruierten jüdischen Weltverschwörung, die qualitative und quantitative Substanz der Völker zu verringern, um sie besser ausbeuten und unterdrücken zu können. Antisemitismus ist ein zentrales Bindeelement rechtsradikaler Ideologien, ohne dass er unmittelbar Juden benennen muss. Stattdessen werden Chiffren wie „neoliberalistische Multikultikräfte“, die „Freunde des Volkstods“ seien (so Björn Höcke in seinem 2018 erschienenen Buch), oder „Kulturmarxismus“ (u. a. durch die Rechtsterroristen Anders Breivik und Branton Tarrant) als Äquivalent zum nationalsozialistischen Wahn des „jüdischen Kulturbolschewismus“ benannt und mit denselben destruktiven und übermächtigen Eigenschaften beschrieben wie die Juden im Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten (Quent 2019a).
Im Kontext dieser Ideologisierung muss der antisemitische Terroranschlag in Halle als folgerichtig im Sinne des „Extremismus des Ärgsten“ (Arendt 2006: 978) verortet werden. Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, beging ein Rechtsextremist aus Sachsen-Anhalt einen Anschlag auf die volle Synagoge in Halle, um dort möglichst viele Jüdinnen und Juden umzubringen. Ausweislich seines Manifestes und seines Tatvideos sah er in Juden die Wurzel allen angeblichen Übels in der Welt. Nur aus Glück, aufgrund der Ungeduld des Täters und wegen der stabilen Synagogentüren, konnte der Attentäter seinen Plan nicht realisieren. Stattdessen ermordete er vor der Synagoge eine Passantin und in einem gezielt ausgewählten Döner-Restaurant einen jungen Bauarbeiter. Weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt und traumatisiert. Nach dem Anschlag wurden jüdische Stimmen laut, die aufgrund des Antisemitismus in Deutschland daran denken, das Land zu verlassen (vgl. u. a. MDR Sachsen-Anhalt 2019). Auch der Attentäter von Halle hatte sich in rechtsradikalen Onlinegruppen vernetzt und radikalisiert. Doch zumindest teilweise hat er seine antisemitische Ideologie auch aus seinem Elternhaus übernommen. In einem Interview mit Spiegel-TV sagte die Mutter des Rechtsterroristen: „Er hat nix gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat das nicht?“ Offenbar ohne es intellektuell erfassen zu können, liefert die Mutter des Attentäters damit ein prototypisches Beispiel für die Artikulation des modernen Antisemitismus, wie er sich nicht nur im Rechtsextremismus wiederfindet, sondern auch in der politischen Linken, in der gesellschaftlichen ‚Mitte‘ und in islamischen Ausprägungen des Antisemitismus (vgl. Salzborn 2018).
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte nach dem Anschlag in Halle, dies sei ein „Alarmzeichen“ gewesen. In den Medien wurde sie massiv dafür kritisiert: Immerhin gab es in der Bundesrepublik nach Zählungen der Amadeu Antonio Stiftung seit 1990 bis November 2019 mindestens 198 Todesopfer rechter Gewalt und der Ausdruck „Alarmzeichen“ sei ein viel zu schwacher Begriff, der vor allem zeige, dass die Gefahr durch den rechten Terrorismus in Deutschland noch immer von Demokrat*innen nicht ernst genug genommen wurde.
Von dem in Thüringen entstandenen, bundesweit mordenden und in der gesamten Bundesrepublik nicht erkannten NSU-Terrorismus bis zu dem jüngsten Anschlag in Halle stellt sich die Frage: Warum wird der Rechtsterrorismus nicht als die Gefahr wahrgenommen, die er tatsächlich darstellt? Ein Teil der Antwort ist das defizitäre statische Terrorismusverständnis hierzulande mit der Folge, dass sich die Bundesrepublik vom vigilantistischen Rechtsterrorismus (Quent 2019b) lange nicht als angegriffen wahrgenommen hat: Von Extremismus und Terrorismus wird erst dann gesprochen, wenn der Staat oder seine Repräsentanten direkt attackiert werden, so der komplexitätsreduzierende und unempirische Rückschluss aus den Erfahrungen im Kalten Krieg und dem Deutschen Herbst sowie der damit einhergehenden Verharmlosung des Rechtsextremismus. Selbst tödliche Angriffe auf ethnische, religiöse, sexuelle und soziale Minderheiten, auf Linke und Angehörige nichtrechter Subkulturen, die der subjektiven Tatrationalität der Verteidigung einer homogenen völkischen Zusammensetzung der Bevölkerung dienen, wurden und werden häufig nicht als im Kern antipluralistische und somit demokratie- und verfassungsfeindliche Aggressionen wahrgenommen und verortet. Das staatszentrierte Extremismus- und Terrorismusverständnis führt systematisch zur Bagatellisierung des Rechtsextremismus und zur Zerstörung von Vertrauen in den Rechtsstaat. Insofern stellen Prozess und Urteil des Oberlandgerichts Dresden gegen die Gruppe Freital einen längst überfälligen Paradigmenwechsel dar: Das Urteil „betont, dass die Einschüchterung von Geflüchteten und deren Unterstützer*innen ein gesamtgesellschaftliches Klima erzeugt, dass geeignet ist, der Bundesrepublik zu schaden, da sich Bevölkerungsteile dadurch nicht mehr sicher fühlen können“ (vgl. Pietrzyk & Hoffmann in diesem Band). Entgegen des statischen muss ein dynamisches und soziologisches Terrorismusverständnis die kollektiven sowie sozialen Botschaften und Folgen schwerer Gewalttaten für die vielfältige Bürger- und Einwanderungsgesellschaft sowie deren inhärente Verletzung der im Grundgesetz in Recht gesetzten Prinzipien der Menschenwürde und Antidiskriminierung in den Blick nehmen. Rechtsterrorismus beginnt nicht mit dem Mord von Politiker*innen, sondern mit militanten Angriffen auf die Gleichwertigkeit gesellschaftlicher Gruppen.
Ein weiterer Teil der Antwort auf die Frage, warum Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus in Deutschland immer wieder unterschätzt und nicht als fundamentaler Angriff auf die Republik verstanden werden, ist das statische Extremismusverständnis – ohne dass der Rechtsextremismusbegriff deshalb für den kritischen und wissenschaftlichen Gebrauch gänzlich verworfen werden muss.
Die Fehlwahrnehmung des statischen Extremismusverständnisses
Viele Jahre wurde gegen das statische Extremismuskonzept, das auf dem Grundgedanken einer genuin nicht-extremistischen Mitte und zweier extremistischer Pole mit starken Gemeinsamkeiten basiert und die Analysegrundlage vieler nachrichtendienstlicher Tätigkeiten der Bundesrepublik bildet, argumentiert, dass es normativ falsch sei: Es vernachlässige die erheblichen Differenzen zwischen rechter und linker Weltanschauungen und entlaste in seiner Analogisierung die „Mitte“, die zugleich durch diesen Konstruktionsprozess überhaupt als politischer Ort erst konstituiert werde. Diese Einwände waren nie falsch – nur zeigt sich seit dem Bekanntwerden des NSU, dass das statische Extremismuskonzept vor allem eines ist: empirisch unzulänglich. Jenseits der Frage von differenten Deutungskontexten hat es sich als gefährlich erwiesen, da es gerade in der empirischen Praxis nicht dazu in der Lage ist, Rechtsextremismus als solchen zu erkennen, weil es Radikalisierungsprozesse (aus und in der Mitte der Gesellschaft) nicht erfasst, die jenseits von starren Organisationsstrukturen erfolgen.
Innerhalb der deutschsprachigen Diskussion wird der Extremismusbegriff vor allem in einem spezifischen Sinn gebraucht: Es geht um ein Verständnis von Extremismus, nach dem dieser im normativen Sinn der demokratischen Verfassungsordnung entgegensteht und dabei sowohl durch seine negative wie durch seine positive Bestimmtheit in Opposition zur Demokratie stehe. Der negative Extremismusbegriff zielt darauf ab, als extremistisch kenntlich zu machen, was dem demokratischen Verfassungsstaat in fundamentaler und totaler Weise entgegensteht, diesen versucht zu bekämpfen oder auch abzuschaffen. Das positive Begriffsverständnis versucht überdies, Einstellungs- und Verhaltensmerkmale zu bestimmen, aus denen ersichtlich werden soll, dass das begriffliche Verständnis von Extremismus auch über eine eigene Phänomenologie verfügt. Besonders Uwe Backes (1989: 111) hat sich für diese Ausdifferenzierung zwischen einem negativen und einem positiven Begriffsverständnis des Extremismus stark gemacht. Er vertritt die Auffassung, dass eine rein negative Definition des Extremismus das „breite Spektrum der Extremismen“ strukturell unbestimmt lasse.
Entscheidend an diesem bis vor einigen Jahren noch dominanten deutschsprachigen Extremismusdiskurs ist, dass Demokratie und Extremismus – und zwar sowohl im negativen wie im positiven Sinn – als „antithetisches Begriffspaar“ (Backes/Jesse 1983: 4) verstanden und insofern in beiden Definitionsvarianten des Extremismusbegriffs statisch auf ein bestimmtes Ideal von Demokratie und dabei konkretisiert auf den Rahmen des bundesdeutschen Verfassungsstaates fixiert werden. Für die Analyse von Extremismen eröffnet dies lediglich einen relativ schmalen empirischen Interpretationsraum. Backes und Jesse folgend handelt es sich beim Extremismus um eine Sammelbezeichnung, mit der unterschiedliche politische Denkformationen und Handlungsweisen zusammengefasst werden, die sich allerdings in der „Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen“ (Backes/Jesse 1993: 40).
Aus einer solchen Extremismusdefinition ergibt sich das Dilemma, das am anschaulichsten mit einem Beispiel aus der vergleichenden Rechtsextremismusforschung illustriert werden kann: Während unter Zugrundelegung eines statischen Extremismusbegriffs eine Partei wie der französische Front National aufgrund seines völkischen Menschen- und Weltbildes im französischen Verfassungskontext eindeutig als extremistische Partei gedeutet werden muss, reicht der Bezug auf ein völkisches Menschenbild in der Bundesrepublik mit Blick auf denselben normativ-statischen Extremismusbegriff nicht aus, da hier (Art. 116 GG) das völkische Menschenbild selbst teilweise Grundlage der politischen Ordnung ist, da das Staatsangehörigkeitsrecht lange Zeit allein auf völkischen Kriterien (dem Abstammungsprinzip) basierte. Insofern bleibt ein Extremismusbegriff, der sich lediglich an eine real existierende Formation von Demokratie als Norm anlehnt, unterkomplex und bleibt im Sinne von Backes hinsichtlich seiner positiven Bestimmung ausgesprochen unscharf und wenig konturiert. Gero Neugebauer (2001: 13) sieht deshalb den Extremismusbegriff auch als normativ verkürzt, unterkomplex und eindimensional an. Überdies bestehe ein zentrales Problem im Wechselspiel zwischen normativem Extremismusbegriff und empirischer Extremismusforschung darin, dass die Feststellung, nach der „es sich beim Extremismus um Demokratiefeindschaft, Gewaltbereitschaft, Repression, Dogmatismus etc.“ handele, nicht „als Ergebnis der Extremismusforschung ausgegeben werden“ kann, sondern vielmehr deren Voraussetzung sei (Neugebauer 2001, 20). Armin Pfahl-Traughber (1992: 67) weist überdies auf das Missverhältnis zwischen „inflationärer Verwendung des Extremismusbegriffs“ und seiner „mangelnden theoretischen Reflektiertheit“ hin.
Vor diesem Hintergrund ist auch der Einwand von Hans-Gerd Jaschke gegen die, wie er sie nennt, „konventionelle Extremismusforschung“ (Jaschke 1991: 46) zu verstehen, wenn er darauf hinweist, dass der Extremismusbegriff allzu oft die gesellschaftlichen Ursachen für das Entstehen von politischem Extremismus ausklammere und dabei die Dynamik extremistischer Gruppierungen und die Wandelbarkeit sowohl innerhalb des Extremismus, aber eben auch die Interaktion mit dem demokratischen Spektrum außer Acht lasse. Das Etikett des Extremismus, das die Extremismusforschung entsprechenden Personen und Gruppen zuweist, verkenne, dass es sich um eine Zuschreibung handle, die Wandelbarkeit und soziale Dynamik innerhalb eines demokratischen Gesellschaftswesens ignoriert. Auf diese Weise werden Ursachenkomplexe individualisiert und der gesellschaftliche Kontext vernachlässigt (vgl. Jaschke 1991, 1994). Darauf macht auch Christoph Butterwegge (2000, 2002) aufmerksam und schreibt: „Die Konzentration auf das/die Extreme lenkt vom gesellschaftlichen Machtzentrum und von seiner Verantwortung für die politische Entwicklung eines Landes ab“ (Butterwegge 2000: 19). Dabei sei die aus der Extremismusformel resultierende Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus ein zentrales Problem, weil sie aus einer lediglich formalen Gegnerschaft zum politischen System eine Vergleichbarkeit von Zielen und Wertvorstellungen ableite. Christoph Kopke und Lars Rensmann betonen, dass die Individualisierung struktureller Aspekte von Vergesellschaftung durch einen derart statischen Extremismusbegriff befördert werde, da politische Orientierungen als „völlig beliebig“ erscheinen, wenn links und rechts „gleichgesetzt und austauschbar“ werden, „sofern man außerhalb der willkürlich gesetzten Mitte steht“ (Kopke/Rensmann 2000: 1453).
Und selbst wenn die Differenzen hinsichtlich der Zielvorstellung rechter und linker Bewegungen gewahrt blieben, klammert der statische Extremismusbegriff die gesellschaftlichen Dynamiken aus: Denn er übersieht, dass extremistische Gesinnungen nicht eben nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen sind. Von einer normativen Amputation des Extremismusbegriffs kann gesprochen werden, weil es sich beim Blick auf die internationale und vergleichende Extremismusforschung keineswegs um die einzige Variante handelt, den Extremismusbegriff für die wissenschaftliche Diskussion fruchtbar zu machen. Die theoriengeschichtliche Auseinandersetzung mit extremistischen und totalitären Bewegungen zeigt, dass das Potenzial des Extremismusbegriffs weit größer ist, als sich dies in seiner bundesdeutschen Vereinfachung darstellt (vgl. Salzborn 2018: 105ff.).
Seymour Martin Lipset hat bereits in einem Aufsatz von 1959, der dann auch in sein berühmtes Werk Political Man (1960) eingeflossen ist, einen differenzierteren Extremismusbegriff eingeführt. Lipset unterscheidet dabei drei wesentliche Kategorien, die zur Klassifizierung von Extremismus dienen können und zugleich einen gehaltvollen und substanziellen Demokratiebegriff zugrunde legen. Während die politischen Ziele auf der traditionellen Rechts-Links-Achse und ihrer Distanz zur liberalen Demokratie ebenso die Unterscheidung zwischen demokratischen und autoritären Mitteln zur Durchsetzung eigener politischer Ziele noch Bestandteile der fachwissenschaftlichen Diskussion sind, die heute auch in der deutschen Extremismusforschung weiterhin Anwendung finden, ist die eigentlich zentrale Kategorie von Lipset weitgehend aus ihrem Blickfeld verschwunden: die Differenzierung zwischen Pluralismus und Monismus, wobei eine antiplurale und monistische Weltanschauung als Kennzeichen von Extremismus interpretiert wird. Nimmt man die Kategorien von Lipset ernst, dann fällt auf, dass Extremismus nicht nur an den Rändern des politischen Systems zu lokalisieren ist, sondern gleichermaßen in dessen Mitte. Dies zeigt auch, dass ein statischer Extremismusbegriff im Vergleich mit einem dynamischen Extremismusbegriff empirisch gegenüber antipluralistischen und gegenaufklärerischen Bestrebungen aus der Mitte der Gesellschaft blind bleibt, da diese stets normativ verklärt wird.
Lipset prägte damit den Begriff des „extremism of the center“ und fügte der konzeptionellen Überlegung eines linken und eines rechten Extremismus einen dritten Typus hinzu, der allerdings zuvörderst auch als sozialökonomischer Begriff als Extremismus der Mittelklassen bzw. Mittelschichten zu verstehen war. So gibt es Lipset (1960: 173) folgend mit Blick auf die Linke, die Rechte und die Mitte jeweils eine moderate und eine extremistische Strömung, „each major social stratum has both democratic and extremist political expressions“ (Lipset 1960: 131). Die Gemeinsamkeiten der drei Extremismen bestünden in ihrer sozialpolitischen Orientierung an den verärgerten, orientierungslosen, desintegrierten, ungebildeten, differenzierungsunfähigen und damit eben letztlich autoritären Personen auf jedem Level der Gesellschaft (Lipset 1960: 175). Entscheidend ist: Alle Extremismen weisen Bezüge zu den demokratischen Bewegungen auf: „The different extremist groups have ideologies which correspond to those of their democratic counterparts“ (Lipset 1960: 133). Nimmt man Lipsets Überlegungen in sozialstruktureller und demokratietheoretischer Hinsicht ernst, dann liefern sie ein wertvolles Grundgerüst für einen dynamischen Extremismusbegriff. Dieser bleibt zwar ein normativer Begriff, aber er bietet die Möglichkeit, die subjektive Setzung von Norm und Abweichung – auf die der statische Extremismusbegriff letztlich in seiner ganzen Banalität hinausläuft – hinter sich zu lassen. Lipsets Grundkonzept bedarf lediglich einer Konkretisierung von Pluralismus und Antipluralismus, den Manfred G. Schmidt (2010: 245f.) als attitudinalen Antipluralismus und weltanschaulichen Monismus beschrieben hat.
Strukturtheoretisch können wesentliche Aspekte für eine solche konzeptionelle Ergänzung eines dynamischen Extremismusbegriffs aus den Überlegungen von Ernst Fraenkel aufgegriffen werden, dessen (Neo-)Pluralismustheorie auf der Annahme basiert, dass die Vertretung von konkurrierenden Interessen einer Demokratie nicht schade, sondern vielmehr deren Fundament bilde. Auf der Basis der Anerkennung konkurrierender sozialer Lebensformen werde ein kontroverser Prozess der Willensbildung erstrebt, dem jedoch ein gemeinsam anerkannter Wertekodex zugrunde liegen müsse. Das Gemeinwohl sei dabei nicht abstrakt definierbar, sondern müsse in konkreten Interessenauseinandersetzungen ausgehandelt werden. Staatlicher Idealtyp ist für Fraenkel der „autonom legitimierte, heterogen strukturierte, pluralistisch organisierte Rechtsstaat“ (Fraenkel 1991: 326). Aufgrund der damit konzeptionell gegebenen normativen Offenheit handelt es sich um ein strukturtheoretisches Instrumentarium, mit dem Antipluralismus und Monismus scharf kritisiert werden können. Die Offenheit des Konzepts impliziert aber zugleich, dass um die Frage eines gesellschaftlichen Konsensus dauerhaft entlang von Interessenkonflikten, auch grundlegender Art, gestritten werden muss.
Ein wesentlicher Schlüssel ist die konsequente Orientierung am freien und sich selbst bestimmenden Individuum als genuinem Subjekt der Politik, dessen „Gemeinwohl“ im gesellschaftlichen Kontext niemals a priori, sondern ausschließlich a posteriori bestimmbar ist, da die ihm zugrunde liegende Vorstellung von Gerechtigkeit „kein absoluter, sondern ein relativer Begriff“ ist (Walzer 1992: 440). Als extremistisch hätten demnach Personen, Bewegungen oder Parteien zu gelten, die den Vorrang des Individuums im demokratischen Pluralismus ablehnen, mit antiliberaler und antiindividualistischer Intention einer kollektiven Homogenitätsvorstellung das Wort reden und die Ungleichheit der Menschen behaupten. In einen solchen Extremismusbegriff im Sinne der politischen Kulturforschung sind nicht nur Handlungen, sondern auch Einstellungen und vor allen Dingen Vorstellungen eingelassen (vgl. Salzborn 2009). Diese Vorstellungen und Einstellungen sind aber eben reversibel und unterliegen der öffentlichen Auseinandersetzung im demokratisch-pluralen Kontext, wobei sie als Denkformen eben in keiner Weise an bestimmte politische Spektren oder eine ausdifferenzierte Rechts-Links-Achse gebunden sind. Ein von Lipsets Überlegungen ausgehender und konzeptionell um die demokratietheoretischen Überlegungen des Neopluralismus erweiterter dynamischer Extremismusbegriff stellt insofern das normative Postulat einer nicht-extremistischen Mitte aus empirischen Gründen grundsätzlich infrage und macht Antipluralismus und Monismus zur Grundlage der Analyse.
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