In Reaktion auf einen Artikel von Hendrik Bolz in der Wochenzeitung der Freitag (Bolz 2019), der Bolz Aufwachsen im Ostdeutschland der 90er-Jahre beschreibt, ruft Journalist Christian Bangel via Twitter dazu auf, Erfahrungen der „Baseballschlägerjahre“ zu teilen (Bangel 2019). Menschen in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen beschreiben darin teils sehr brutale körperliche Übergriffe durch Neonazis und das Leben in durch deren Hegemonie entstandenen Angsträumen. Zugleich wird problematisiert, dass dieses Jahrzehnt „nur der Auftakt für einen großen rechtsextremen ‚Marsch durch die Institutionenʻ“ bedeute, dem „weiterhin mit Appeasement begegnet wird“ (vgl. Liske 2019). Das heißt, die Baseballschläger-Tragenden haben sich bürgerliche Existenzen aufgebaut, sie bekleiden Funktionen in Verwaltungsämtern, im Sicherheitsapparat, in Schulen, Medien und Parlamenten. Nicht zuletzt wurden die Baseballschläger durch Schusswaffen ersetzt. Rechte Morde werden zum online gestreamten Terror. Der Gewinn der Social Media-Initiative über die Baseballschlägerjahre ist eine Sichtbarmachung von Erfahrungen, die neben rechter Gewalt vor allem auch die Bagatellisierung rechter Gewalttaten und die fehlende rechtsstaatliche Verurteilung sowie Solidarisierung durch die Öffentlichkeit problematisiert.
Aus der Perspektive der fachspezifischen Opferberatungsstelle ezra in Thüringen lassen sich Kontinuitäten erkennen: Rechte Gewalt bleibt für bestimmte, vor allem von Rassismus betroffene Menschen Alltag. Staatliche Behörden wie Polizei und Justiz reagieren darauf oft mit Nichtbeachtung, Verharmlosung, Leugnung und/oder Fehleinschätzung – sowohl in der Ermittlungsarbeit als auch in der strafrechtlichen Aufarbeitung. Dies wird als sekundäre Viktimisierung bezeichnet (Quent et al. 2014: 33). Das Spannungsfeld zwischen subjektiver Erfahrung und institutioneller Reaktion führt im Bewältigungsprozess der Betroffenen zu erheblichen Schwierigkeiten. Die Vermittlung von individueller und gesellschaftlicher Dimension sucht die Profession der spezifischen Opferberatung offenzulegen (Köbberling 2018: 371–382). Verantwortlich für die Aufarbeitung und Erinnerung sind nicht allein die Betroffenen, sondern auch staatliche Behörden, Zivilgesellschaft und Medien. Zivilgesellschaftliche Solidarisierungen liefern einen wesentlichen Beitrag zur Umkehrung der De-Thematisierung durch staatliche Behörden. Aufmerksame und kritische Berichterstattung ermöglicht die Sichtbarmachung eines anhaltend präsenten sowie brisanten Themas, welches Bestandteil der (bundes-)deutschen Gesellschaft ist: rechte, rassistische und antisemitische Gewalt.
Thüringen als Ort rechter Gewalt
Für das Jahr 2018 registrierte ezra als unabhängige und fachspezifische Opferberatungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt die bisher höchste Anzahl an rechten Angriffen in Thüringen seit ihrem Bestehen 2011. Die Zahlen des Thüringer Landeskriminalamtes, die einen ähnlichen Phänomenbereich beschreiben, weichen erheblich davon ab. Zwar orientiert sich ezra am polizeilichen Definitionssystem in Bezug auf gesetzliche Tatbestände und den Gegenstand „politisch rechtsmotivierte Gewalt“, dennoch bestehen – wie auch der Vergleich im Bund zeigt – „erhebliche behördliche Erfassungs- und Wahrnehmungsdefizite“ (Kleffner 2018: 34). Opferberatungsstellen bewerten Angriffe im Sinne der Parteilichkeit aus der Perspektive der Betroffenen, deren Wahrnehmung ist zentral. Die Beratung kann auch dann in Anspruch genommen werden, wenn sich Betroffene entscheiden, keine Anzeige gegen die Täter*innen zu stellen. Der Widerspruch zwischen den Interessen der Betroffenen und dem Agieren staatlicher Einrichtungen belegt die Notwendigkeit der inhaltlichen und strukturellen Unabhängigkeit als ein wesentliches Arbeitsprinzip von ezra (VBRG 2018: 10). Seit Anfang 2020 gibt es einen Austausch bzgl. der PMK-Einordnung von behördenbekannten Fällen zwischen ezra und dem LKA Thüringen.
Auch bei der Einordnung von Todesfällen rechter Gewalt seit 1990 in Thüringen gibt es Abweichungen zwischen den Einschätzungen: Während die Behörden nur einen Fall (Karl Sidon, 15. Januar 1993 Arnstadt) einordnen, listet ezra sieben weitere auf. Auf einen Beschluss des Thüringer Landtags vom November 2018 hin sollen diese sieben und zwei weitere Todesfälle wissenschaftlich überprüft werden, um ggf. eine staatliche Anerkennung nachzuholen. Zugleich soll damit die Voraussetzung „für eine Weiterentwicklung im Umgang mit rechten Einstellungen und einer daraus resultierenden Handlung“ geschaffen werden (vgl. Thüringer Landtag 2018).
Anhand der Todesfälle von Ireneusz Szyderski (verstorben am 3. August 1992) und Klaus-Peter Kühn (verstorben am 17. Juni 2012) soll nachfolgend exemplarisch aufgezeigt werden, was unter der Kontinuität rechter Gewalt und sekundärer Viktimisierung durch Justiz und Polizei zu verstehen ist. Besondere Beachtung erfahren in der „fallrekonstruktiven Auswertung der Fälle“ (Kopke/Schultz 2015: 15) die Beschreibung der Täter(-gruppe), des Opfers und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften sowie die Dynamik des Fallgeschehens (vgl. ebd.). Die dazu ausgewerteten Informationen stammen hauptsächlich aus den Urteilen der Strafverfahren gegen die Täter, vereinzelt aus Medienberichten und der Einschätzung der Antifa Suhl/Zella-Mehlis (siehe Quellenangabe im Literaturverzeichnis). Zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass die Urteile eine Zusammenschau der Ergebnisse der Ermittlungsbehörden bilden. Dies kann bedeuten, dass die Perspektive der Betroffenen eine davon abweichende ist.
Rassismus tötet: Ireneusz Szyderski
Während sich Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre aufgrund der politischen Wende auch in einer strukturellen Umbruchzeit befindet, agieren Neonazis teils ungehemmt ihre menschenverachtende Ideologie gegenüber Menschen aus. Infolge von rechten Gewalttaten kommen dabei auch in Thüringen Menschen zu Tode. Im damals noch nicht zu Erfurt eingemeindeten Dorf Stotternheim findet am 2. August 1992 eine Disco-Veranstaltung von Schaustellerbetrieben statt. Ireneusz Szyderski (24) ist polnischer Staatsangehöriger und arbeitet als Erntehelfer im nahe gelegenen Dachwig. Am Abend fährt er mit drei Bekannten nach Stotternheim, um dort einen geselligen Abend zu verbringen. Im Laufe des Abends geht Szyderski zur Toilette. Als er nach etwa einer halben Stunde noch immer nicht zurück ist, beginnen seine Bekannten ihn zu suchen. Was währenddessen geschehen ist, kann das Gericht später nicht im Detail rekonstruieren, folgt jedoch der Darstellung der Angeklagten. Der Angeklagte Carsten S. gibt an, Szyderski beim Versuch, über den Zaun der Veranstaltungsfläche zu klettern, gestellt zu haben. Weil dieser vermutet, Szyderski wolle seine Getränke nicht bezahlen, schlägt er ihm, nach eigenen Angaben, aus Wut „mit der flachen Hand ins Gesicht“ (Landgericht Erfurt 1993: 10). Der junge Pole ist alkoholisiert, seinen Bekannten gegenüber zeigte er jedoch zuvor keine Ausfallerscheinungen. Da er nur wenig Deutsch spricht, äußert er sich gegenüber dem Angeklagten „Ich Pole – zu viel Alkohol“. Der Angeklagte Carsten S. entfernt sich von Szdyerski und informiert den Angeklagten René K., dass „jemand habe abhauen wollen“ (ebd.). René K. ist „als Chef der Ordnungsgruppe“ (ebd.: 12), einer vom Veranstalter bezahlten Security, angestellt. Die Nachricht spricht sich herum, sodass mehrere „deutsche junge Männer“ (ebd.: 11) ebenfalls zum Tatort aufbrechen.1 Szyderski, der noch auf dem Zaun ist, wird vom Zaun heruntergerissen und auf dem Boden liegend mit Tritten gegen den Kopf und Stockschlägen auf den Rücken malträtiert. Zudem wird er von der Gruppe beschimpft. Bereits am Kopf blutend vermag Szyderski noch aufzustehen, wobei er wiederholt stürzt. Der Angeklagte René K. zerrt Szyderski mit dem weiteren Angeklagten Stefan K. über den steinigen Boden zum Ausgang, wobei Szyderski sich weitere Verletzungen zuzieht und mutmaßlich schon bewusstlos ist. Der Schwerverletzte wird von René K. mit den Worten „Hier, jetzt kannst du ihn mitnehmen“ (ebd.: 13) an dessen Bekannte übergeben. Sie heben ihn ins Auto und fahren „panikartig nach Dachwig zurück“ (ebd.). Während der etwa 15-minütigen Fahrt verstirbt Szyderski. Der in Dachwig eintreffende Notarzt kann nur den Tod feststellen. Die Gerichtsmedizin stellt später diverse Verletzungen fest, darunter einen Bruch der vorderen Schädelgrube. Die ausgelöste Hirnblutung führte zur Bewusstlosigkeit, welche wesentliche Körperreflexe ausschaltete, sodass Szyderski aufgrund des Einatmens von Erbrochenem erstickte.
Lediglich drei Täter kommen in Untersuchungshaft, die teilweise bis zum Prozessbeginn am Landgericht Erfurt im September 1993 andauert. Nach neun Verhandlungstagen werden zwei der drei jungen Männer wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu Geldstrafen verurteilt, der dritte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 2,5 Jahren. Weitere Mittäter bleiben anonym.
Eine Abhörmaßnahme des Hauptverdächtigen René K. durch die Staatsanwaltschaft belegt, dass dieser aufgrund seiner Zugehörigkeit zur rechten Skinhead-Szene die Anstellung als Security erhalten hatte – der Auftraggeber, Zeuge W., Geschäftsführer der Wagner-Veranstaltungs-GmbH, bezeichnet ihn als „Haupt-Glatze“ (Landgericht Erfurt 1993: 40). Da René K. jedoch nach eigener Aussage bisher mit „ausländischen Arbeitskollegen“ auskam, sieht das Gericht keinen Grund zur Annahme einer rassistischen Einstellung und somit eines politischen Tathintergrundes. Aus der Zusammenschau des Urteils und einzelner Berichterstattungen der Tageszeitung Thüringer Allgemeine zeichnet sich das Bild eines souveränen jungen Mannes. Wohl bewusst darüber, dass das Sichtbarwerden eines politischen Motivs die Schwere der Tat erhöhen würde, leugnet er dieses. Die ebenfalls durch das Abhören offenbar gewordene Beeinflussung von Zeugen zu Falschaussagen, um den Verdacht eines politischen Motivs zu schwächen, wird in den Ermittlungen nicht weiterverfolgt und vom Gericht nicht beachtet. Rassismus wird als Tatmotiv nicht thematisiert. Offen bleibt die Frage, ob der aus Polen stammende Ireneusz Szyderski aufgrund einer rassistischen Zuschreibung als notorischer Dieb „bestraft“ wurde und ob sich bei einem deutschen vermeintlichen Zechpreller eine ähnliche Gruppendynamik entwickelt hätte.
Die Annahme eines politischen Motivs der Täter liegt äußerst nahe. Die wissenschaftliche Überprüfung könnte die Materialgrundlage (Ermittlungsakten, Berichte aus der Haftzeit etc.) erheblich erweitern und zu einer stichhaltigeren Begründung für die Anerkennung beitragen. Ireneusz Szyderski wäre dann der erste bekannte Todesfall durch rechte Gewalt nach 1990 in Thüringen – der rechte Angriff auf ihn wäre dann zugleich Auftakt einer Reihe von Mordanschlägen bzw. Gewalttaten mit Todesfolge. Das letzte bekannte Todesopfer rechter Gewalt in Thüringen stirbt 2012.
Sozialdarwinismus tötet: Klaus-Peter Kühn
Am Abend des 16. Juni 2012 treffen die Freunde Manuel K. (17) und Robert R. (19) im Plattenbaugebiet Suhl-Nord auf Klaus-Peter Kühn (59), der im selben Block wohnt wie Christopher K. (23), Manuel K.s Bruder. Kühn, im Viertel bekannt als „Kippensammler“, der sich durch Pfandflaschen aus dem Abfall sein Arbeitslosengeld aufbessert, kommt gerade mit einem Stoffbeutel voll Bier aus dem nahe gelegenen Discounter. K. und R. entwenden ihm einige Flaschen und gehen mit der Beute in die Wohnung von Christopher K., wo sie das Bier und weitere alkoholische Getränke konsumieren. Was dann geschieht, ist – wie im Fall Szyderski – nur durch die Zeugenaussagen der Täter und des Gerichtsmediziners sowie weiterer Zeugen zu rekonstruieren.
Manuel K. und Robert R. dringen in die zwei Etagen tiefer liegende Wohnung von Kühn ein und setzen sich ungebeten an dessen Küchentisch. Sie fordern die Herausgabe von weiterem Alkohol und Zigaretten. Kühn, von der Situation überfordert, gibt den beiden knapp drei Euro. Daraufhin entwenden die Täter Pfandflaschen, verlassen die Wohnung und kaufen Bier. Gegen 21.30 Uhr kehren die Täter ein zweites Mal zurück, dringen erneut mit Gewalt in die Wohnung ein und fordern Geld. Da Kühn angibt, keines zu besitzen, durchsuchen und verwüsten die Täter die Wohnung. Sie finden schließlich 20 bis 25 Euro und attackieren Kühn – nach eigenen Angaben, weil er ihnen nicht die Wahrheit sagte – zuerst mit Faustschlägen und Tritten, später mit Gegenständen wie Vasen und einem Holzstuhl. Kühn liegt nach diesen Attacken vermutlich bewusstlos und schwer verletzt auf der Couch seiner Einraumwohnung, welche die Täter gegen 22 Uhr verlassen. Obwohl die Tat den Nachbarn nicht verborgen bleibt und die Anwohner aus der gegenüberliegenden Wohnung das Eindringen sogar durch den Türspion beobachten, ruft niemand die Polizei.
Da – zur Verwunderung der Täter – weder Polizei noch Krankenwagen anrücken, begeben sie sich gegen 1 Uhr ein drittes Mal zur Wohnung von Klaus-Peter Kühn. In der Wohnung finden die Täter den schwer blutenden, vor Schmerzen stöhnenden Kühn. Sie rauchen in der Wohnung, besprechen sich und setzen die Misshandlungen fort. Sie urinieren auf ihr Opfer, drücken Zigaretten in seiner Nase aus, schlagen und treten ihn. Kühn ist zu diesem Zeitpunkt noch am Leben, aber nicht mehr bei Bewusstsein. Sie traktieren Kühn schließlich, indem sie ihm eine Tischplatte gegen den Kopf schlagen und ein 21 Kilogramm schweres TV-Gerät auf den am Boden liegenden Mann werfen. Sie legen einen schweren Aschenbecher auf Kühns Genitalbereich und treten darauf. Klaus-Peter Kühn stirbt schließlich in den Morgenstunden des 17. Juni 2012 in Folge der Verletzungen. Er verblutet. Da keine inneren Organe und größeren Blutgefäße verletzt wurden, hätte er bis in den frühen Morgen hinein gerettet werden können. Niemand aus dem Haus kommt ihm zu Hilfe, niemand ruft Polizei oder Notarzt. Er stirbt hilflos und allein. Nach der Tat begeben sich die Täter in die Wohnung von Christopher K., um zu schlafen.
Im Polizeiverhör sprechen die Brüder K. von Kühn als „Penner“, „Kunde“ und „Spinner“, sodass sogar der Kripobeamte im Gericht feststellen muss, Kühn „wurde zur Sache runtergewürdigt“. Anteilnahme und Reue habe es im Polizeiverhör nicht gegeben, vielmehr lächelt Manuel K. triumphierend im Vernehmungsvideo. Christopher K., so der Kripobeamte im Gerichtsverfahren, habe höchstens aus Selbstmitleid Tränen verdrückt. Dass die Täter aus dem Umfeld der rechten Szene stammen und es zumindest gegen Manuel K. schon ein Verfahren wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gibt, spielt in der polizeilichen und juristischen Aufarbeitung keine Rolle.
Die politische Dimension im Fall Kühn brachte erst die Medienberichterstattung antifaschistischer Akteure in der Region ans Licht, die die Polizeiberichte aufmerksam verfolgt hatten. Ginge es nach Polizei und der Lokalzeitung Freies Wort, wäre der Mord an Kühn als Fall verrohter Jugendlicher aus einem sozial schwachen Umfeld oder als Gangkriminalität abgetan worden – ein klassisches Beispiel für eine sekundäre Viktimisierung, welche dem Opfer eine Mitschuld am Geschehen zuschreibt. Am 23. Juni 2012 spekulierte die Lokalzeitung Freies Wort, dass es sich „ganz offensichtlich um einen Mord im Kriminellen- oder Drogenmilieu“ handelt, bei dem Schulden eingetrieben werden sollten. Diese bereits von abwertenden Stereotypen geprägte Hypothese wird auch durch die im Gerichtsverfahren gewonnenen Erkenntnisse nicht korrigiert. Darüber hinaus findet keine kritische Berichterstattung zur juristischen Aufarbeitung durch das Landgericht Meiningen statt.
Habgier oder Sozialdarwinismus?
Das Gerichtsurteil vom 24. Januar 2013 stellt als Motiv die Habgier der Täter bzw. die Erpressung von Geld ins Zentrum ihres Handelns. Warum die Gewalt erst dann richtig eskalierte, als das letzte Geld des Opfers längst gefunden war, lässt sich damit nicht erklären. Die Eskalation der Gewalt gegen ein wehrloses Opfer erklärt sich das Gericht, indem es das Narrativ der Täter übernimmt und annimmt, dass diese ihr Opfer quälten, weil sie von ihm angelogen wurden. Doch vielmehr ist davon auszugehen, dass die Notlüge nur der willkommene Anlass war, sich an ihm auszulassen (Landgericht Meiningen 2013: 10f., 22f.).
Als eher zweitrangig räumt das Gericht das Motiv der „Willkür [sich] zum Herren über Leben und Tod“ aufzuspielen ein und qualifiziert damit den Mord als sittlich „niedrig“ (Landgericht Meiningen 2013: 23). Dabei liegt genau hier der Grund, warum die Täter auch dann noch folterten, als das Opfer schon nicht mehr ansprechbar war. Die besondere Qualität der Gewalt spricht für ein auf Hass basierendes Motiv wie Sozialdarwinismus. Die Tatsache, dass die Täter selbst sozial benachteiligt sind, ist motivgebend für eine Tat, in der sich die Täter an der Entwürdigung ihres Opfers aufrichteten, sich ihres Wertes und ihrer Überlegenheit versicherten, indem sie einem anderen Menschen das Leben nahmen. Dieses durch und durch sozialdarwinistische Tatmotiv, das in der Urteilsbegründung eine Nebenrolle spielte2 und das die Presseberichterstattung de-thematisierte, erkannte ein anderer politischer Akteur sehr deutlich. Die örtliche Antifa-Gruppe wies früh auf die Gewalttat und ihre politische Dimension hin und ist nach wie vor der einzige lokale politische Akteur, der regelmäßig am Jahrestag des Mordes an Klaus-Peter Kühn erinnert (Antifa Suhl/Zella-Mehlis 2017). Des Weiteren ordnete ezra den Mord nachträglich als rechts motiviert in die Jahresstatistik für 2012 ein und benannte ebenfalls das sozialdarwinistische Motiv (vgl. ezra 2013).
Das Motiv der Tat ist nicht in der Habgier nach 25 bis 30 Euro oder einem politisch unterbestimmten Begriff von „bloßer Menschenverachtung“ zu finden, sondern im sozialdarwinistischen Anspruch, das Recht des Stärkeren, „Ranghöheren“ durchzusetzen, gepaart mit dem Willen, eigene gesellschaftliche Benachteiligungserfahrungen durch Folter und Erniedrigung eines anderen, „rangniederen“ Menschen zu kompensieren. Dieses Motiv war während des Foltermordes handlungsleitend. Strukturell sind sich die Verfolgung von „Asozialen“ und der Rassismus an diesem Punkt also sehr nahe. Solches Verhalten ist damit eindeutig ein politisches.
„Sie sind die Hauptzeug*innen des Geschehenen und keine Statisten“3 – Deutungshoheit gewinnen
In beiden Fällen ist die De-Thematisierung und Nicht-Anerkennung der rassistischen bzw. sozialdarwinistischen Tatmotivation der beteiligten Akteure festzustellen. Ermittlungen und Beurteilungen der Taten basieren auf der Annahme individueller Konflikte, wodurch die gesellschaftliche Dimension rechten Hasses verdeckt wird. Die Täter werden nicht auf mögliche rechte Szenezusammenhänge hin überprüft, ihre Ideologie weder erkannt noch in die Beurteilung der Tatmotivation einbezogen. Damit verbunden ist die Ignoranz, Verharmlosung und – im Fall von Kühn – die Reproduktion der von den Tätern zugeschriebenen Stereotype. Für Angehörige und die entsprechenden Betroffenengruppen ist dies ein eindeutiges Signal: Sie werden erneut viktimisiert, verantwortlich gemacht und gesellschaftlich stigmatisiert. Den Tätern und ihrem Umfeld wird signalisiert, dass zwar die ausgeübte Gewalt verurteilt wird, nicht jedoch die motivierende, auslösende und eskalierende rechte Ideologie. Es handelt sich um ein strukturelles Problem, kein individuelles einzelner Beamt*innen: Doch die Deutungen von Tätern, Ermittlungsbehörden und Justiz sind bisher weitestgehend Gegenstand der Verhandlungen.
Was ist zu tun?
Die Vertretung von Betroffenen und Angehörigen in Strafverfahren durch erfahrene Nebenklagevertreter*innen kann diese dabei unterstützen, Handlungsfähigkeit und Deutungshoheit zurückzugewinnen („konfrontative/politische Nebenklagevertretung“, vgl. Lang/Pietrzyk 2019). Die grundsätzliche Fokussierung auf die Täter im Strafverfahren vergisst die gesellschaftliche Bedeutung der juristischen Aufarbeitung. Nach der Tat und den Ermittlungen gibt das Urteil die allgemeine Deutungshoheit wieder. Die Stimmen der Betroffenen fehlen darin und ihnen selbst wird die Verantwortung übertragen, dies zu ändern. Doch rechte Gewalt ist ein gesellschaftlich tief verwurzeltes Phänomen: Medien, zivilgesellschaftliche und andere politische Akteure sollten hierin ein Anliegen erkennen und Betroffene unterstützen, ihre Perspektiven sicht- und hörbar zu machen. Es bedarf positiver Kontinuitäten hinsichtlich der gesellschaftlichen Reaktionen aus Zivilgesellschaft, Polizei und Justiz. Auch die Institutionalisierung der fachspezifischen Begleitung und Beratung von Betroffenen ist bedeutsam: Eine fachspezifische Opferberatung kann unter dem Dach des bundesweit vernetzten Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt e. V. eine solche positive, gegenläufige Kontinuität herstellen: die Professionalisierung der Beratung – sowohl im Hinblick auf die individuelle Unterstützung als auch hinsichtlich (lokal-)politischer Interventionen.
1 Kenner*innen betrachten die Türsteher-Szene der 1990er-Jahre als von Neonazis durchdrungen und wesentlich besetzt.
2 Im März 2013 korrigierte sich die vorsitzende Richterin in einem Gespräch mit der ZEIT ein Stück weit, indem sie feststellte, dass die Täter eine „sozialdarwinistische Lebenseinstellung“ offenbart hätten (vgl. Der Tagesspiegel 2013).
3 Arslan, Ibrahim (03.09.2019): Symposiumsbeitrag. Opfer und Überlebende sind keine Statist*innen, sondern die Hauptzeug*innen des Geschehenen.
Literatur
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Fünfter Jahrestag der Ermordung von Klaus-Peter Kühn. Online: www.afaction.info/index.php [08.01.2020].
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Symposiumsbeitrag. Online: www.verband-brg.de/rueckblick-symposium-20-jahre-opferberatung/ [16.01.2020].
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Twitter-Eintrag 29.10.2019. Online: twitter.com/christianbangel/status/1189058579183099904 [04.03.2020].
Bolz, Hendrik (2019):
Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf. Online: www.freitag.de/autoren/der-freitag/sieg-heil-rufe-wiegten-mich-in-den-schlaf [04.01.2020].
Der Tagesspiegel (2013):
Mit massiver Gewalt. Online: www.tagesspiegel.de/politik/offensichtliche-faelle-mit-massiver-gewalt-taeter-pruegeln-alkoholkranke-maenner/7959230.html [08.01.2020].
ezra (2013):
Pressemitteilung: Opferberatung registriert Todesopfer rechter Gewalt in Thüringen. Online: ezra.de/opferberatung-registriert-todesopfer-rechter-gewalt-in-thueringen-mord-erfolgte-aus-rechter-ueberzeugung/ [16.01.2020].
Freies Wort (2012):
Mord in Nord. Abrechnung im Bandenmilieu? Verdächtige sind 17 und 23. Online: www.insuedthueringen.de/region/suhl_zellamehlis/suhl/Mord-in-Nord-Abrechnung-im-Bandenmilieu-Verdaechtige-sind-17-und-23;art83456,2035636 [08.01.2020].
Kleffner, Heike (2018): Die Reform der PMK-Definition und die anhaltenden Erfassungslücken zum Ausmaß rechter Gewalt. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) [Hrsg.]: Wissen schafft Demokratie. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Heft 4, S. 32–39.
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Kopke, Christoph/Schultz, Gebhard (2015): Abschlussbericht des Forschungsprojektes. Überprüfung umstrittener Altfälle Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990.
Landgericht Erfurt: Urteil vom 05.11.1993, 801 Js 20622/92-1 Ks.
Landgericht Meiningen: Urteil vom 24.01.2013, 530 Js 11033/12-2 Ks jug.Lang, Kati/Pietrzyk, Kristin (2019): Mit den Mitteln des Rechts: Plädoyer für eine konfrontative/politische Nebenklagevertretung bei vorurteilsmotivierter Gewalt. In: Eick, Volker/Arnold, Jörg [Hrsg.]: 40 Jahre RAV. Im Kampf um die freie Advokatur und um ein demokratisches Recht. Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster, S. 130–137.
Liske, Markus (2019):
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Quent, Matthias/Geschke, Daniel/Peinelt, Eric (2014):
Die haben uns nicht ernst genommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei. Online: www.verband-brg.de/wp-content/uploads/2019/01/EZRA-VBRG-Studie-Die_haben_uns_nicht_ernst_genommen_WEB.pdf [04.03.2020].
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