Bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 waren Bündnis 90/Die Grünen und FDP die mit 23 bzw. 21 Prozentpunkten die beiden am häufigsten gewählten Parteien in der Altersgruppe der 18- bis 24-jährigen Jungwähler:innen (Abbildung 1). Insbesondere die CDU musste im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 enorme Verluste von ca. 10 Prozentpunkten hinnehmen und rutschte damit vom ersten auf den vierten Platz.[1] Auch die SPD – ansonsten 2021 in allen Altersgruppen ab 35 Jahren Wahlsieger – schnitt in der jüngsten Altersgruppe mit 15% Zustimmung am schlechtesten ab. Grüne und FDP konnten demgegenüber bei jungen Menschen im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 jeweils ca. 8 Prozentpunkte zulegen und damit ein historisch gutes Wahlergebnis erzielen. Insgesamt sind jedoch große regionale Schwankungen festzustellen. So ist die AfD – bundesweit mit 7% nur sechststärkste Partei – vor allem bei jungen Männern im Osten ziemlich erfolgreich. Bei dieser Wählergruppe erreichte die AfD beispielsweise in Sachsen-Anhalt 18,3% und in Sachsen 17,7% der Stimmen; damit war sie nach der FDP die meistgewählte Partei.[2]
Die Gründe für diese Wahlergebnisse sind vielfältig. Zweifellos haben das Internet und die digitale Interaktion auf sozialen Plattformen eine zunehmende Bedeutung für die Ausbildung politisch-gesellschaftlicher Einstellungen und die Wahlentscheidungen junger Menschen.[3] Parteien versuchen daher, diese Zielgruppe mit spezifischen Social-Media-Inhalten über ihre Jugendorganisationen zu erreichen. Aus diesem Grund haben wir die Online-Kommunikation aller Jugendorganisationen der im Bundestag vertretenen Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 analysiert. Dabei sind wir folgenden Fragen nachgegangen:
Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 haben wir über Linkfluence im Zeitraum vom 1. Juli bis 26. September 2021 Twitter-, Instagram- und Facebook-Daten der Jugendorganisationen der im Bundestag vertretenen Parteien erhoben. Dafür haben wir für jede der Jugendorganisationen Quellensets erstellt, die auf allen beobachteten Plattformen jeweils die Accounts der Bundesverbände, der Landesverbände sowie der Ortsverbände in den Landeshauptstädten und in den 20 größten deutschen Städten beinhalten. Pro Jugendorganisation können dies bis zu 126 unterschiedliche Accounts auf allen Plattformen, auf einer einzelnen Plattform bis zu 42 Accounts sein. Insgesamt wurden 676 Accounts von Jugendorganisationen untersucht (Abbildung 2) und dabei ca. 13.000 Posts und Reposts ausgewertet.
Alle Jugendorganisationen des demokratischen Parteienspektrums (JU, Jusos, Julis, Grüne Jugend, Linksjugend) unterhalten eine sehr große, d.h. fast die maximal mögliche Zahl an Social-Media-Accounts (Maximum Grüne Jugend: 122; Minimum Junge Liberale (Julis): 118). Lediglich auf Twitter sind einige regionale Verbände nicht vertreten. Im Gegensatz zum Social-Media-Angebot der demokratischen Jugendverbände fällt jenes der Jungen Alternative (JA) mit insgesamt nur 75 Accounts sehr schwach aus, wobei sie auf Facebook mit 31 Accounts ihre größte Abdeckung hat.
Verschiedene Parameter der Online-Performance der Jugendorganisationen geben darüber Aufschluss, inwieweit das Interaktionsverhalten in den sozialen Medien im Vorfeld der Bundestagswahl mit dem späteren Wahlergebnis der jeweiligen Partei korrespondierte. Zunächst lässt sich dafür die Gesamtanzahl der Follower:innen aller Accounts pro Plattform betrachten (Abbildung 3) und mit den Mitgliederzahlen der Jugendorganisationen in Beziehung setzen (Abbildung 4).
Die Junge Union (JU) hatte zum Untersuchungszeitpunkt vor den Jusos die meisten Follower:innen. Vor allem auf Facebook und Twitter folgen beiden Organisationen viele User:innen. Das überrascht nicht, schließlich haben diese beiden Jugendorganisationen auch „offline“ mit Abstand die meisten Mitglieder. Auch wenn die Reihenfolge der Jugendorganisationen bei Mitgliederzahlen und Follower:innen insgesamt bestehen bleibt, werden die Abstände im Bereich der Online-Anhänger:innenschaft deutlich kleiner.
So erfährt die Grüne Jugend lediglich auf Facebook eine geringere Unterstützung als JU und Jusos und ist auf Instagram sogar der followerstärkste Verband. Julis und Linksjugend sind auf Instagram ebenfalls recht populär, ihre Follower:innenzahlen fallen allerdings auf den anderen Plattformen – insbesondere auf Twitter – etwas ab. Die JA hingegen setzt in ihrem Onlineauftritt vor allem auf Facebook. Dort hat sie trotz ihrer sehr geringen Mitgliedszahl und ihren wenigen Social-Media-Accounts die drittmeisten Follower:innen.
Social-Interactions[4] (Balken) und geschätzte Reichweite[5] (gestrichelte Linie) geben als weitere Parameter der Online-Performance Aufschluss darüber, wie viele Reaktionen die Posts der Jugendorganisationen auslösten und wie viele Menschen potenziell erreicht werden konnten (Abbildung 5).
Zunächst fällt auf, dass die Social Interaction-Werte auf Instagram im Vergleich zu Twitter und Facebook extrem hoch sind. Sie resultieren in erster Linie aus dem spezifischen Nutzungsverhalten auf dieser Plattform, das im Gegensatz zu Twitter und Facebook besonders viele Likes generiert. Die Julis waren in diesem Bereich mit einigem Abstand führend. Auch die Grüne Jugend und die Linksjugend ließen bei den Interaktionswerten auf Instagram die JU und die Jusos hinter sich. Auf Twitter waren die Social Interactions insgesamt sehr niedrig und auf Facebook löste die JA noch vor der JU die meisten Reaktionen aus. Bei der geschätzten Reichweite, die maßgeblich durch Retweets und Shares beeinflusst wird, war die JU die stärkste Jugendorganisation in den sozialen Netzwerken. Dies liegt vor allem an ihrer breiten Plattformabdeckung und ihren vielen Follower:innen, die die Inhalte aktiv weiterverbreiteten. Die Jusos lagen nur auf dem dritten Platz und wurden noch von den Julis übertroffen. Die Grüne Jugend, die Linksjugend und die JA erreichten in abnehmender Reihenfolge immer weniger Menschen mit ihren Posts.
Neben diesen Befunden zur Online-Performance interessierten uns vor allem inhaltliche Fragestellungen: Welche programmatischen Positionen wurden von den Jugendorganisationen vertreten, bestanden thematische Überschneidungspunkte und Alleinstellungsmerkmale und welche Werte wurden vermittelt? Dies lässt sich mit einem sogenannten Topic Modelling nachzeichnen – einem maschinellen Verfahren zur automatischen Erkennung von Themen (topics) innerhalb einer ausgewählten Gesamtmenge von Texten, dem sogenannten Korpus. Die auf diese Weise ermittelten Themen setzen sich zusammen aus Listen von Wörtern, die in Teilen des Korpus signifikant häufig vorkommen. Daher sind sie auch nicht mit Themen im klassischen qualitativen Verständnis gleichzusetzen. Die maschinelle Themenauswertung bleibt immer etwas „oberflächlicher“, dafür gibt sie jedoch einen breiten Überblick über inhaltliche Schwerpunkte und hilft, Muster in der Themensetzung verschiedener Akteur:innen zu erkennen. Das Topic Modelling zu unserem Korpus aus ca. 13.000 Posts und Reposts aller Jugendorganisationen ergab nach der interpretativen Bewertung der Topiclisten folgendes Bild (Tabelle 1):
Grundsätzlich wurden zwei Topic-Kategorien sichtbar:
Besonders relevant ist, welche konkreten Themen die unterschiedlichen Jugendorganisationen im Wahlkampf besetzt und welche Inhalte sie verbreitet haben. Versuchen die Verbände, sich eher vielseitig zu positionieren oder mit ihrem „Markenkern“ zu überzeugen? Gibt es thematische und damit eventuell auch programmatische Überschneidungen? Dies lässt sich mit einer Netzwerkgrafik veranschaulichen. Diese Grafik zeigt die Nähe aller untersuchten Social-Media-Accounts der Jugendorganisationen zu den errechneten Topics (Abbildung 6). Je häufiger ein Account (kleinere farbige Knoten) etwas zu einem bestimmten Topic postet, desto näher wird er diesem Topic (größere schwarze Knoten) zugeordnet. Wenn mehrere Topics von einem Account angesprochen werden, positioniert sich dieser Account-Knoten zwischen den entsprechenden Topic-Knoten.
Als erstes lässt sich feststellen, dass die obere rechte Hälfte des Netzwerks – mehrheitlich mit Accounts der Grünen Jugend, der Jusos und der Linksjugend – insgesamt eine breitere Streuung aufweist. Dies deutet darauf hin, dass die entsprechenden Jugendorganisationen ein größeres Themenspektrum bedienten und einige inhaltliche Überschneidungen zwischen den Verbänden bestanden. So stehen z.B. dem Topic Soziales viele Accounts der Grünen Jugend, der Jusos und einige der Linksjugend nahe. Das Thema Bildung_Klimawandel_Europa wurde vor allem von der Linksjugend, den Jusos und auch von den Julis aufgegriffen. Über Soziale_Jugendpolitik sprachen Linksjugend und Jusos gleichermaßen. In der unteren rechten Hälfte gibt es deutlich weniger Überschneidungen. Die hier hauptsächlich vertretenen Jugendorganisationen agierten also eher monothematisch. Die JU setzte in ihrem Social-Media-Verhalten sehr wenige inhaltliche Schwerpunkte und konzentrierte sich vornehmlich auf wahlkampf-bezogene Topics (Wahlkampf_Union, Dank_Wahlkampf). Diese fehlende thematische Kontur in den sozialen Medien könnte zum schlechten Wahlergebnis der CDU bei jungen Wähler:innen beigetragen haben. Die JA bespricht in nationalistischer, tendenziell antidemokratischer Ausrichtung online exklusiv das Topic Patriotismus_Freiheit und bemühte ansonsten unspezifische Wahlkampfrhetorik (Wahlkampf_Allgemein). Die Julis nahmen inhaltlich eine interessante Rolle ein: Sie griffen einerseits die großen Themen auf, die ansonsten vor allem unter Linksjugend, Jusos und Grüner Jugend verhandelt wurden (Bildung_Kllimawandel_Europa), vermittelten diese allerdings in ihrem eigenen Politikstil und mit der Betonung liberaler Werte (Freiheit_Innovation_Fortschritt). Damit schufen sie online das einzige konturierte, demokratische Themenangebot jenseits der Jusos, der Grünen Jugend und der Linksjugend. Das Besetzen dieser von der JU ausgelassenen inhaltlichen Leerstelle dürften den Wahlerfolg der FDP begünstigt haben.
Um einen systematischen Eindruck davon zu bekommen, wie die oben ermittelten Themen kommunikativ umgesetzt wurden, haben wir die Online-Ansprache der Jugendorganisationen anhand von Sprechakten untersucht. „Sprechakt“ ist ein Begriff aus der Linguistik, mit dem unterschiedliche Kategorien sprachlichen Handelns beschrieben werden können. Die unterschiedlichen Kategorien von Sprechakten sind nach John Searle[6] – bezogen auf den politischen Kontext folgende:
Für unsere Analyse haben wir pro Jugendorganisation in den 10 viralsten Posts je Plattform (Facebook, Twitter, Instagram = insgesamt 30 Posts pro Jugendorganisation) eine Sprechaktklassifikation durchgeführt und jeden Post mit maximal zwei dominanten Sprechakten annotiert.
Das Netzdiagramm in Abbildung 7 zeigt die kommunikativen Dimensionen der Jugendorganisationen. Die Muster der im Wahlergebnis und in der Online-Performance sehr erfolgreichen Jugendorganisationen Grüne Jugend und Julis schlagen beide vor allem bei expressiven und direktiven Posts aus. Die Grüne Jugend setzte dabei etwas häufiger auf gefühlsbetonte Ansprachen, die Julis waren insgesamt etwas ausgeglichener in der Wahl ihrer sprachlichen Handlungen. Politische Forderungen in einer expressiven, emotionalisierenden Sprache gehörten zur erfolgreichen strategischen Kommunikation beider Verbände. Die JA zeigt ebenfalls ein ähnliches Bild der Sprechaktkarte, jedoch zielten expressive Posts bei dieser Organisation im Gegensatz zur Grünen Jugend und den Julis vor allem auf die Diskreditierung des politischen Gegners und die Herabsetzung marginalisierter Gruppen ab und transportierten nationalistische und neurechte Wertevorstellungen. JU und Jusos traten online vor allem kommissiv auf und erhoben damit den Anspruch, ihre bis dato vorhandene Regierungsverantwortung mit weiteren Wahlversprechen zu untermauern. Ein Vorgehen, das auf junge Wähler:innen scheinbar weniger überzeugend wirkte. Die Linksjugend versuchte, vor allem durch assertive Erklärungen und Argumentationen in Erscheinung zu treten, stellte wenig direktive Forderungen und nutzte dabei kaum expressive Ansprachen. Auch diese Strategie war – nach den hier untersuchten Faktoren und gemessen am Wahlergebnis – nur mäßig erfolgreich.
Die Ergebnisse legen nahe, dass verschiedene Faktoren zusammenspielen müssen, damit junge Menschen von politischen Inhalten auf den sozialen Medien angesprochen und überzeugt werden. Um möglichst viele Personen zu erreichen, ist es sinnvoll, sich nicht nur auf eine Plattform zu konzentrieren, sondern eine möglichst große Community auf mehreren sozialen Netzwerken aufzubauen. Jede Plattform bringt ein ihr eigenes Nutzungsverhalten mit sich, auf das die Inhalte abgestimmt werden sollten. Eine zielgruppenspezifische, relevante Themensetzung, eindeutige Positionen und ein klares inhaltliches Profil sind dabei sehr wichtig. Unsere Analysen zeigen außerdem, dass eine mutige und emotionalisierende Ansprache auf sozialen Medien besonders erfolgsversprechend sind.
[1] Vgl. dazu: Der Bundeswahlleiter, Statistisches Bundesamt (Destatis)(2018): Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017. Heft 4. Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Frauen und Männer nach Altersgruppen. Wiesbaden; Der Bundeswahlleiter, Statistisches Bundesamt (2022): Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021. Heft 4. Wahlbeteiligung und Stimmabgabe nach Geschlecht und Altersgruppen. Wiesbaden.
[2] Vgl. dazu: Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (2021): Deutscher Bundestag. Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik im Freistaat Sachsen. Kamenz; Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt (2022): Wahlen. Wahl des 20. Bundestages in Sachsen-Anhalt am 26. September 2021. Halle (Saale).
[3] Vgl. dazu: Feierabend, Sabine/Rathgeb, Thomas/Kheredmand, Hediye/Glöckler, Stephan (2021): JIM-Studie 2021. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Hg. v. mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. Stuttgart.
[4] Social Interactions: Summe an sozialen Interaktionen mit den Posts – also Likes, Retweets, Kommentare, Shares, Favoriten etc.
[5] Geschätzte Reichweite: Über einen von Linkfluence erstellten Koeffizienten ermittelte geschätzte Zahl der User:innen, die die Posts zum Veröffentlichungszeitpunkt gesehen haben könnten.
[6] Vgl. dazu bspw.: u bspw. Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. (2004): Studienbuch Linguistik. Niemeyer Verlag. Tübingen (S. 218) oder Meibauer, Jörg (2008): Pragmatik. Stauffenburg Verlag Brigitte Narr. Tübingen (S. 95).
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