#1: Wahlbetrugsnarrative in sozialen Medien im Vorfeld der Bundestagswahl 2021

Das Narrativ des Wahlbetrugs ist auch in Deutschland kein neues Phänomen. Bereits seit 2016 ruft beispielsweise das rechtsextreme Kampagnennetzwerk Ein Prozent mit der Initiative wahlbeobachtung.de zu ebendieser auf, um einem vermeintlichen Wahlbetrug zulasten der AfD entgegenzuwirken. Doch die Verbreitung solcher Erzählungen als strategisches Mittel rechter und verschwörungsideologischer Akteur:innen hat in diesem Jahr massiv zugenommen. Nach dem Vorbild der „gestohlenen“ Präsidentschaftswahl Donald Trumps werden derartige Desinformationsnarrative in großflächigem Stil auch in Deutschland adaptiert. Dabei wirkt die Schnelllebigkeit des Internets, die Dynamik der digitalen Kommunikation sowie die Empörungskultur in sozialen Medien als Multiplikator antidemokratischer Ideologeme. Auf Grundlage einer breiten Basis an Social-Media-Daten (hauptsächlich von den Plattformen Twitter und Facebook) haben wir untersucht, wie derartige Narrative entstehen und ineinandergreifen, welche Desinformationsstrategien gezielt eingesetzt werden und welches Gefahrenpotenzial damit einhergeht. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf den Entwicklungen dieses Phänomens im Vorfeld der Bundestagswahl.
 

Zeitreihenanalyse

Anhand einer Zeitreihenanalyse unseres Datensatzes, den wir über das Social-Listening-Tool Linkfluence erhoben haben, lassen sich Peaks im Online-Diskurs feststellen. In Abbildung 1 sind Posts und Beiträge abgetragen, die zwischen dem 5. Juni und dem 12. September 2021 auf Online-Nachrichtenseiten (orange), Twitter (hellblau), Facebook (dunkelblau) und Instagram (gelb) zum Thema Wahlbetrug abgesetzt wurden – insgesamt ca. 19.000 mit einer geschätzten Reichweite von 135 Mio. Personen. Neben einigen Ausschlägen der Kurve (Peaks), die von Online-Nachrichten bspw. zur Wahlbetrugsdebatte in den USA geprägt sind, fallen vor allem zwei Peaks auf, die beinahe ausschließlich auf Twitter und Facebook zurückzuführen sind: Einer zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni (LTWSA) und einer am 28. August, dem Tag vor dem ersten Kanzler:innentriell im Vorfeld der Bundestagswahl (BTW).
 

Hashtag-Analyse

Mit einem Blick auf die häufigsten Hashtags (Abbildung 2), die in den Posts dieser beiden Hochphasen verwendet wurden, lassen sich nach qualitativer Durchsicht der entsprechenden Posts bereits einige generelle Rückschlüsse zur thematischen Ausrichtung der Wahlbetrugsnarrative ziehen.

Jeweils steht dabei die #afd im Fokus, die meist als Leidtragende ausgemacht wird – Gegenstimmen sind mit #noafd, #fckafd und #fcknzs allerdings auch zu finden. Vonseiten des rechtsalternativen und rechtspopulistischen Social-Media-Spektrums wird bei der LTWSA außerdem zur #wahlbeobachtung aufgerufen, oft die #antifa als Aggressor ausgemacht, ein Bezug zum Mythos der „gestohlenen Wahl“ von #trump hergestellt und außerdem im Kontext von #corona auch von einer #diktatur in Deutschland gesprochen, die systematisch #wahlbetrug betreibe. Diese Verschwörungserzählung wird zur BTW noch deutlich stärker aufgegriffen und vermischt damit typische Narrative des #querdenken-Milieus (#impfpflicht, #impfen) mit dem Vorwurf des #wahlbetrugs vor allem durch die #briefwahl.
 

Netzwerkanalyse

Nun ergeben sich daraus folgende Fragen: Wie beziehen sich die skizzierten Erzählstränge aufeinander? Wie entsteht und entwickelt sich ein solcher Social-Media-Trend und welche Akteurskonstellationen werden dabei sichtbar? Dies lässt sich mithilfe von Netzwerkgraphen gut visualisieren und auswerten. Abbildung 3 zeigt ein Retweet-Netzwerk, das wir zum Keyword wahlbetrug in der Woche der LTWSA über das Tool Twitter Explorer erstellt haben.

Dabei bilden sich im Wesentlichen zwei Cluster heraus. Im Linken finden sich vor allem solche Accounts, die dem rechtsalternativen Spektrum zuzuordnen sind und von Wahlbetrug und -manipulation bezüglich der Landtagswahl sprechen. Das rechte Cluster besteht mehrheitlich aus demokratischen Akteur:innen der Zivilgesellschaft, progressiven Influencer:innen sowie den Twitter-Accounts von verschiedenen Medien, die diesen Desinformationsnarrativen widersprechen. Bemerkenswert ist, dass im linken Cluster deutlich mehr Twitter-User:innen aktiv sind (mehr Knoten), diese sich untereinander häufiger retweeten (mehr Kanten) und damit einzelnen Beiträgen eine sehr hohe Reichweite verschaffen (größere Knoten).
 

Narrative und Desinformationsstrategien

Um gezielter narrative Stränge sowie Desinformationsstrategien zur Wahlbetrugsdebatte im politisch rechten Spektrum herauszuarbeiten, wurden die reichweitenstärksten und einflussreichsten Posts unseres Datensatzes qualitativ ausgewertet und kategorisiert.
 

False-Flag-Accounts

Eine Strategie, die wir vor allem im Twitter-Diskurs zur LTWSA dokumentieren konnten, war der Einsatz von sogenannten False-Flag-Accounts. Diese verbreiten unter „falscher Flagge“ des politischen Gegners Desinformationen, welche dann wiederum vom eigenen Publikum, also rechtsalternativen Medien, Meinungsführer:innen und Multiplikator:innen aufgegriffen und intensiv gestreut werden.
 

Insbesondere ein Kommentar vom User Jonathan, der sich – dem Profil nach zu urteilen – als Antifaschist ausgibt (und mittlerweile von Twitter gesperrt wurde), nimmt im rechten Twitter-Netzwerk zur LTWSA eine sehr zentrale Stellung ein. Dieser Kommentar wurde unter einem Tweet des politisch engagierten Pianisten Igor Levit abgesetzt und suggeriert, dass die Antifa systematisch Wahlbetrug betreibe, wofür es keinerlei Anhaltspunkte gibt. Ein Screenshot dieses Kommentars wurde bspw. vom reichweitenstarken neurechten Twitter-Account @Hartes_Geld geteilt (Beispiel 1). In diesem Tweet überträgt er den Wahlbetrugsmythos der US-Wahl auf die LTWSA, stellt das Parteienspektrum abseits der AfD unter Generalverdacht der Wahlmanipulation und schürt damit Vorbehalte gegenüber der Demokratie in Deutschland allgemein.

Betrachtet man den Account Jonathan genauer, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich dabei um einen False-Flag-Account handelt. Aus einer Vielzahl an Tweets geht hervor, dass vermeintlich linke Themen nur als Vorwand dienen, rechtspopulistische und -radikale Narrative zu befeuern. Er verbreitet u.a. Falschinformation über Annalena Baerbock (Beispiel 2), benutzt häufig diskriminierende, sexistische Sprache, bemüht dabei klassisch rechte Stereotype (Beispiel 3) und reproduziert die rechtsextreme Verschwörungserzählung des „großen Austauschs“ (Beispiel 4). 


Kampagne gegen die Briefwahl

Das Narrativ, die Briefwahl sei manipulationsanfällig oder grundsätzlich undemokratisch ist bereits seit längerem bekannt. Auch in diesem Jahr rief das rechtsextreme Kampagnennetzwerk Ein Prozent vor diesem Hintergrund wieder zur Wahlbeobachtung auf (Beispiel 5). Doch erst seit den Geschehnissen der US-Wahl, in der derartige Falschmeldungen zum maßgeblichen Treiber des Mythos der „gestohlenen Wahl“ wurden, sind ähnliche Narrative und Desinformationskampagnen auch in Deutschland verstärkt festzustellen. So verbreitet bspw. die AfD eine Vielzahl an Social-Media-Beiträgen und Youtube-Videos, in denen sie vermeintlich sachliche „Gründe gegen die Briefwahl“ (Beispiel 6) anführt und diese sehr eindringlich und provokativ in Slogans (Beispiel 7) verpackt. Diese Narrative sind wegen ihrer Argumentationsweise und ihrer professionellen Aufmachung sehr anschlussfähig für ein breites Publikum – trotz der offiziellen Stellungnahmen von staatlichen Verantwortungsträger:innen und Expert:innen, die immer wieder die Sicherheit der Briefwahl beteuern [Link →] und Faktenchecks zur Verfügung stellen [Link →].

Wahlbetrug und Corona-Pandemie

In Zeiten der Corona-Pandemie gab es in diesem Jahr vermehrt auch Wahlbetrugsvorwürfe, die sich mit Narrativen aus dem Milieu der „Querdenker:innen“ vermischen. Bspw. werden staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als Anlass der Behauptung genommen, Menschen würden von der BTW ausgeschlossen, wenn sie weder geimpft noch genesen seien (Beispiel 8). Auch über diese Desinformation wurde frühzeitig aufgeklärt [Link →]. Jedoch sind unter rechtsalternativen und verschwörungsideologischen Akteur:innen häufig derart gefestigte Weltbilder anzutreffen, die für jene aufklärenden Argumentationen nicht mehr zugänglich sind: Das demokratische System und seine Vertreter:innen werden insgesamt als unglaubwürdig, korrupt oder unrechtmäßig dargestellt und damit delegitimiert (Beispiel 9).

Fazit

Die Auswertung unserer Daten hat gezeigt, dass es in den sozialen Medien im Superwahljahr 2021 ein massives Aufkommen an Wahlbetrugsvorwürfen und Desinformationskampagnen von unterschiedlichen rechten Akteur:innen gab. Die langwierige und medial sehr präsente Wahlbetrugsdebatte der US-Wahl hat diese Narrative auch in Deutschland zugänglich und anschlussfähig gemacht. Insbesondere die Briefwahl wurde mit großflächigen Kampagnen in Misskredit gebracht. Die besondere Situation der pandemischen Lage hat zusätzlich dazu beigetragen, dass sich Wahlbetrugs- und Anti-Corona-Narrative und damit auch unterschiedliche rechtsradikale und verschwörungsideologische Internet-Communities stärker vermischen. Die Cluster der Netzwerkanalyse machen deutlich, wie intensiv unterschiedliche rechte Akteur:innen (Desinformationsmedien, rechtspopulistische und -radikale Influencer:innen, Blogbetreiber:innen, Querdenker:innen, Parteien wie bspw. die AfD oder dieBasis) miteinander interagieren und sich so gegenseitig eine sehr hohe Netzpräsenz verschaffen. Damit können in kürzester Zeit – auch ohne ein abgesprochenes oder konzertiertes Vorgehen – Twittertrends entstehen, die auch über die eigene Community hinaus Aufmerksamkeit erregen. Dazu kommen gezielte False-Flag-Aktionen, die die Verbreitung von Desinformation maßgeblich verstärken können.

Insgesamt zielen derartige Wahlbetrugsnarrative auf die Delegitimierung von demokratischen Prozessen und Institutionen ab. Sie emotionalisieren und polarisieren den gesellschaftlichen Diskurs, konstruieren und verfestigen ideologisierte Weltbilder, fördern das Misstrauen oder die Ablehnung gegenüber dem demokratischen System und bergen damit ein erhebliches antidemokratisches Potenzial.

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